Bunträume

Donnerstag, 20. Dezember 2012

Im Wachstum

Ein Jahreswechsel bringt viel Neues mit sich. Nun. Für Herrn Klein trifft das bei dem Anstehenden auf jeden Fall zu. Nicht nur, dass er Mitte Jänner eine kleine Schwester ins Haus bekommt. Er wird ab 3. Jänner auch zu den "großen" Kindern in den Kindergarten wechseln. Er wird also doppelt groß in recht kurzer Zeit. Zu groß ?

Das werden wir sehen. Er befindet sich ja immer noch in einem Alter, in dem er nicht angelaufen kommt und mir von seinem Tag erzählt. (Wenn er das je tut) Er erzählt mir zwar, dass er geschlafen hat und gegessen. Und vielleicht auch, dass er gespielt hat und mit wem. Aber nicht, dass er bei den großen Kindern auf Besuch war. Die sind nämlich eine Etage über ihm angesiedelt und seit einem Monat geht er fast täglich für eine Weile hinauf um sich dort "umzuschauen".
Und weil er mir das nicht erzählt, weiß ich auch nicht, wie es ihm da gefällt. Da oben. Bei den "Lemon Trees". Und weil ich das nicht weiß, weiß ich auch nicht, wie ich ihn bestmöglich unterstützen kann.

Ich will ihm keinen Druck machen, auch wenn der im Raum steht. Denn ab 3. Jänner gibt es kein zurück. Da gibt es keine Besuche mehr und dann die Rückkehr in den sicheren Hafen der Krippe. Wo er sich auskennt. Die Abläufe weiß. Jedes Kind beim Namen nennen kann. Ab 3. Jänner ist er ein Lemon Tree und beginnt und endet den Tag umgeben von 40 anderen Kindern. Fast alle älter als er.

Ob mir das gefällt, dass er keine Möglichkeit hat in den sicheren Hafen zeitweise zurückzukehren weiß ich nicht. Es spielt auch keine Rolle mehr. Was gilt ist ihn bestmöglich zu stärken und für ihn da zu sein.

Auf Nachdruck durfte ich nun endlich die Pädagoginnen kennenlernen. Nun - zumindest 2 von 6. So dass ich wenigstens Namen habe, die ich ins Gespräch einbringen kann. Ein wenig Glück habe ich, dass ich im Mutterschutz bin und ihn die ersten Tage gut auffangen kann. Dass ich ihn jederzeit abholen kann, wenn es ihm zu viel wird. Und er sich so langsam eingewöhnen kann. In seinem Tempo. So, wie er es bisher gewohnt war.

Denn auch wenn es nur ein kurzer Umzug im gleichen Haus ist, so ist es eine massive Veränderung. Doppelt so viele Kinder. Fast doppelt so viele Pädagoginnen. Komplett neue Umgebung und neues Material. Ein neuer Tagesablauf.
Wenn wir bedenken wie schwer wir uns bei einem Jobwechsel tun, so wird uns vielleicht ein wenig bewusster, wie es so einem kleinen Menschen gehen muss. Der noch nicht alles einfach artikulieren kann, wenn er sich nicht auskennt. Der nicht einfach abends aufs Sofa fällt und sich denkt: "Naja, in ein paar Tagen oder Wochen werde ich mich schon eingelebt haben."
Wir glauben oft "Kinder sind anpassungsfähig" und "flexibel". Das stimmt - so wir sie denn auf Veränderungen vorbereiten und ihnen Zeit geben, sich mit dem Gedanken zu befassen. Es bedeutet nicht, dass wir sie einfach vor vollendete Tatsachen stellen und erwarten, dass sie diese so akzeptieren, wie wir uns das vorstellen.
Also kann ich nur versuchen Herrn Klein daheim die nötige Kontinuität zu bieten. Die Routine, die er kennt und die ihm Sicherheit gibt. So lange, bis das nächste Großereignis ansteht.

Wir sind gespannt. Aber heute heißt es erst einmal Abschied nehmen und Danke sagen. Danke an die Pädagoginnen, die ihn die letzten 1,5 Jahre begleitet haben.






















Und alles weitere sehen wir dann im Jänner.











Donnerstag, 13. Dezember 2012

Das ganze Leben ist ein Quiz...

Unlängst habe ich einen Artikel darüber gelesen, wie wichtig das Vorlesen für Kinder ist. Und dass wir bloß nicht aufhören sollen damit, sobald die Kinder in der Schule selbst lesen lernen. Weil Vorlesen mehr ist, als nur eine Geschichte.
Viele Eltern sind daher sehr engagiert und fangen früh an, mit ihren Kindern Bücher anzuschauen. Nur wird bei vielem aus dieser gemeinsamen Zeit ein Quiz. Und das Bücheranschauen zur Lektion.


Sobald das Kind nämlich beginnt erste Wörter zu formulieren, wird ihm nicht mehr nur erzählt, was was ist. Es wird geprüft, ob es das nun selbst weiß. UND ob es das auch sagen kann. Und will. So wird ein Bilderbuch durchgeblättert und auf jeder Seite aufs neue der Zeigefinger angesetzt: "Und was ist das?" Anfangs antworten die Kinder noch stolz. Viele reagieren irgendwann gar nicht. Manche sagen (absichtlich) etwas komplett anderes. Weil sie auch schon mit den Gedanken wieder ganz woanders sind.

Auch ein Besuch im Zoo, im Wald oder einfach nur auf dem Spielplatz wird zur Quizshow. "Was ist das?" "Welche Farbe hat das Auto?" "Wie macht die Katze?"
Warum tun wir Eltern das? Warum stellen wir unsere Kinder so früh schon auf den Prüfstand?
Vieles ist sicher Unsicherheit. Wir wollen schließlich, dass unsere Kinder lernen und Grundlagen schaffen für noch mehr Wissen. Letztendlich fühlen wir uns verantwortlich für das, was aus unseren Kindern wird.
Zum anderen wollen wir unser eigenes Wissen weitergeben. Und das, was wir für wichtig halten, auch ihnen vermitteln.

Ich erinnere mich an Ausflüge mit meinem Vater. Pilze sammeln im Wald oder ein Besuch im heimischen Tierpark. Sie waren immer gespickt von Fragen. "Was ist das für ein Pilz?" "Wie heißt dieser Vogel?" Ja besonders die Vögel hatten es ihm angetan. Amsel, Spatz, Schwalbe, Rotkehlchen. Manchmal glaubte ich die Antwort zu wissen, aber aus Angst, falsch zu antworten, sagte ich meist, dass ich es nicht weiß. Wie auch immer - mein Vater war entsetzt: "Aber Nadine. Das musst Du doch wissen!" Und ich fiel innerlich zusammen. Nicht, weil ich es nicht wusste, sondern weil ich meinen Vater so enttäuscht hatte.

Wieder einmal fehlt uns das nötige Vertrauen, dass die Kinder lernen. Dabei saugen gerade die 0-6 jährigen ALLES auf wie ein Schwamm. Sie filtern kaum und oft sind wir überrascht, wenn wir hören, woran sie sich erinnern. Dass die Kuh auf dem Bauernhof, den wir vor 4 Monaten besuchten, Simone heißt. Dass jede A-Klasse auf der Straße ein "Opa-Auto" ist, obwohl wir damit zum letzten Mal vor einem halben Jahr unterwegs waren.
Welches seiner Bücher von Oma ist, welches Auto wo gekauft oder von wem geschenkt wurde. Welche Frau, die die Krippe betritt, welches Kind abholt. Ich kann mit Herrn Klein keinen Bogen um einen Spielplatz machen, weil er schon genau weiß, dass wir nur hier entlang oder dort einbiegen müssten, um genau dort hin zu kommen. Er kennt sich aus. Findet im Hofer die Milch und kennt die Haltestellen der täglichen Ubahn- und Busfahrten. Sein Gedächtnis frustriert mich oft, weil ich immer und immer wieder erkenne, wie meines mich im Stich lässt. Wenn er mir in zerstückelten Sätzen von Erlebnissen berichtet, bin ich gefordert herauszufinden WAS er sagt und um WELCHES Ereignis es sich handelt. Er bildet Zusammenhänge, die mich staunen lassen. Wenn er bei jedem Nilpferd vom "Saubermachen" redet, weil er beim letzten Zoobesuch mit seinem Papa zugeschaut hat, wie die Pfleger den Nilpferden den Mund gespült haben.
Muss ich ihn da wirklich noch abends fragen, welches Tier aus dem Buch schaut? Welche Farbe der Bus hat oder - weil er ja nun begonnen hat zu zählen - wie viele kleine Küken der Henne hinterherlaufen?

Stattdessen kann ich einfach darauf vertrauen, dass er das all das weiß oder lernen wird. So es ihn interessiert. Ich kann mit ihm einfach Bücher anschauen und die Zweisamkeit genießen. Genau die, die so wichtig ist und wohl der Hintergrund unserer langen Bücherzeit am Abend. Nachdem er den Großteil des Tages in der Krippe verbracht hat und "gelernt" hat. Oder "gepielt", wie er sagt.

"Im gemeinsamen Tun erleben Kinder etwas, was sie nicht erleben, wenn sie unterrichtet werden und wir ihnen mit den besten Absichten und den ausgefeiltesten didaktischen Verfahren etwas beizubringen versuchen. Sie erleben Glück in der Gemeinschaft, ein Gefühl, das sie aus der Gemeinschaft mit der Mutter, in der dunklen sicheren Höhle, schon kennen. Diese Erfüllung entsteht, weil in diesem gemeinsamen Tun ihr wichtigstes Bedürfnis gestillt wird: verbunden zu sein und in dieser Verbundenheit zu wachsen. Um frei zu sein und autonom zu werden.
Märchenstunden etwa, das Erzählen von Geschichten, sind die höchste Form des Unterrichtens. Denn Lernen gelingt am besten, wenn die emotionalen Zentren im Gehirn aktiviert und all jene Botenstoffe freigesetzt werden, die das Knüpfen neuer Verbundungen zwischen den Nervenzellen fördern." (aus "Jedes Kind ist hochbegabt" von Gerald Hüther)


Wieder kann ich nur Maria Montessori zitieren, die sagte: "Ein Kind kann nicht nicht lernen."

Wer dennoch glaubt, einem Kind müsse man Dinge beibringen und durch Abfragen und Prüfen das Wissen in den Kopf trichtern, dem empfehle ich einen Abschweif in die eigene Schulzeit. Wo wir uns auch nicht für jede gewusste Antwort gemeldet haben. Weil uns die Frage vielleicht zu banal erschien, wir zu faul waren oder das Thema uns gar nicht sonderlich interessiert hat. Oder aus anderen unerfindlichen Gründen.

Denn auch wenn mein Vater mich immer wieder bezüglich der heimischen Vögel ausgequetscht hat. Ich habe sie nie "gelernt". Sie haben mich schlichtweg nie interessiert und ich habe dieses Wissen nie gebraucht. Außer in den unangenehmen Situationen mit meinem Vater im Wald. Und ist es nicht traurig, dass genau die in meiner Erinnerung hängengeblieben sind?

Mittwoch, 28. November 2012

Siehst Du mich ?

Gestern bekam ich wieder einmal erstaunte Reaktionen darauf, dass wir Herrn Klein nicht loben. Bei uns gibt es kein "Super!", "Bravo!" oder "Gut gemacht!". Das mag für viele wirklich unvorstellbar klingen, vor allem, da man ja immer wieder davon liest, wie wichtig es ist, Kinder zu ermutigen und ihre erreichten Meilensteine anzuerkennen. Und genau darin liegt der Unterschied.


Doch ich möchte jetzt gar nicht allzu sehr darauf eingehen, warum wir nicht Loben. Denn das tut Alfie Kohn in seinem Artikel Fünf Gründe gegen "Gut gemacht!" (original: 5 resonst to stop saying "Good Job!")selbst sehr gut. Worauf ich eingehen möchte ist das, was uns wirklich gut tut.

Wie im gestrigen Post bereits erwähnt, bin ich Mitglied eines Wohnprojektes. Begonnen haben wir das ganze in einem Kreis von 15 Personen. Und da wir eine große Aufgabe vor uns sahen - nämlich die Teilnahme an einem Bauträgerwettbewerb der Stadt Wien und die anschließende Planung eines Wohnhauses mit 39 Wohneinheiten - mussten wir uns recht bald und früh überlegen, wie wir das gut und organisiert angehen. So stießen wir auf das alternative Projektmanagement "Dragon Dreaming". Hierbei wird ein Projekt immer wieder in 4 Phasen unterteilt:

1. Das Träumen - ohne eine Vorstellung, einen Traum, eine Vision, kommt so ein Projekt gar nicht zustande. Und wenn es mal nicht weitergeht, man mal ansteht, so muss man wieder schauen - Was sind unsere Ziele? Was genau wollten wir nochmal? Und das schönste daran: Es darf geträumt werden, was das Zeug hält. Dann erst geht es in die nächste Phase:

2. Das Planen - wie können wir nun diese Vision verwirklichen? Unsere Träume leben lassen? Was braucht es? Welche Arbeitsschritte sind notwendig und wer tut was?

3. Das Tun und Handeln - Und dann geht es ans Eingemachte. Es wird umgesetzt. Alles in der 2. Phase überlegte und durchdachte wird nun umgesetzt. Dabei wird immer die Vision aus Phase 1 im Kopf behalten. Gehandelt wird im Sinne der Zielerreichung.

4. Das Feiern - Erfolge müssen gefeiert werden. So kann man Druck und Anspannung der letzten 2 Phasen ablassen, sich gemeinsam über das erreichte freuen und dann viel entspannter weitergehen. Weiter Träumen. Weiter Planen. Weiter Handeln.

Es klingt alles danach, als wäre die letzte Phase die Schönste. Aber nach 3 Jahren in diesem Projekt kann ich sagen: Ich liebe sie alle. Ich bin eine Träumerin. Aber ich mag es auch mit engagierten Leuten am Tisch zu sitzen und zu überlegen: 'Und nun: wie?' um dann loszustarten. "Let's get it on!" Und am Ende wird gefeiert. Ausgiebig.

Mittlerweile sind wir 50 Erwachsene. Das Projekt befindet sich in in verschiedenen Phasen. Während der Bau offensichtlich in der Tun & Handeln - also in der Bauphase ist, so wird heute auch die Dachgleiche gefeiert. Für uns ein großes Event, waren wir doch von der ersten Idee, dem ersten schwarzen Strich auf Papier dabei. Gleichzeitig planen wir weiter an unseren Wohnungen und müssen wichtige Entscheidungen für die Einrichtung treffen. Das Projekt will sich auch sonst engagieren, nicht nur ein großes Haus bauen. Dafür braucht es neue Ideen und Visionen. Da beginnt ein neuer Prozess.

Auf diesem Wege gibt es immer wieder Einzelne oder Kleingruppen, die sich für irgendetwas besonders einsetzen. Weil es ihnen liegt. Weil sie gute Kontakte haben oder besondere Fähigkeiten, die es für diese eine Aufgabe braucht. Und wenn dann etwas gelingt, wird diese Person oder Arbeitsgruppe gefeiert. Gefeiert im Sinne von: Wertgeschätzt.

Als wir noch 15 Leute waren, geschah dies auch hin und wieder über den Wertschätzungskreis.
Hier saßen wir in einem Kreis und jede Person durfte für 2 Minuten in die Mitte. Die anderen hatten in diesen 2 Minuten Zeit der Person etwas wertschätzendes zu sagen. Etwas, was sie beeindruckt, was sie vielleicht außergewöhnlich, oder auch einfach nur mal erwähnenswert fanden.

Als ich das erste Mal in diesem Kreis saß, fühlte ich mich nervös und knallrot. Gleichzeitig war ich überrascht, was die Menschen um mich herum zu mir sagten und offensichtlich von mir dachten. Es war eine Seelenmassage höchster Ordnung und nach 2 Minuten schwebte ich förmlich aus dem Kreis. Das wirklich wundervolle daran war jedoch: Ich war ja nicht die einzige, nicht die Königin im Mittelpunkt. Denn alle wurden für 2 Minuten seelenmassiert. Alle schwebten. Und alle hatten am Ende aufgetankt.

Das war der Moment, in dem ich den Unterschied zwischen Lob und Anerkennung erkannt hatte. Dass es nicht darum ging, etwas zu tun, um gelobt zu werden. Dass es mich nicht weiter brachte, wenn jemand etwas, was ich tat "Super!" fand. Sondern dass wirklich ehrliche Worte beschrieben, was genau sie beeindruckt hat. Nicht unbedingt das, was ich tat. Sondern wie ich es tat. Und vor allem: So, wie ich war.

Seit ich 13-14 Jahre alt war, schrieb ich Texte. Gedichte, Geschichten, sonstiges. Und ich war stolz wie Oskar, wenn jemand "Toll!" fand, was ich schrieb. Dann schrieb ich weiter und suchte diese Bestätigung wieder. Immer und immer wieder. Bis ich schrieb, um Bestätigung zu erhalten. Sobald diese kam, war ich glücklich. Bis das Gefühl abflaute. Der Text in Vergessenheit geriet. Dann musste schnell ein neuer her. Für das Gefühl, das Schöne. Aber kurze. Ein Auf und Ab. Aber keine Auseinandersetzung mehr mit dem, was ich eigentlich tat. Schreiben. Verarbeiten. Freude empfinden.
Heute schreibe ich viele Blogs. Wenn ich dann von jemandem höre: "Schön." oder "Toll." empfinde ich das als leer. Wenn jemand sagt: "Schön geschrieben." so ist es zumindest eine vage Auseinandersetzung mit der Art des Textes, der Wortwahl vielleicht, dem Aufbau des Posts. Erhalte ich jedoch Kommentare, die sich auf den Inhalt beziehen, befriedigt mich das wirklich und nachhaltig. Denn dann werde ich motiviert, mich weiter damit auseinanderzusetzen.  Und ich beschäftige mich weiter mit der eigentlichen Arbeit dahinter.

Und das ist es doch, was wir von unseren Kindern wollen. Dass sie Bilder malen, weil sie malen wollen. Dass sie einen Sport betreiben, der ihnen Spaß und Freude bereitet. Dass sie sich mit Themen befassen, weil sie diese interessieren. Und nicht, weil sie unsere Bestätigung, unser Lob wollen. Oder gute Noten (Leider ist das ein ganz großes anderes Thema...)
Also lobe ich auch Herrn Klein nicht. Wenn er zum Beispiel irgendwo hinaufklettert, oder es wagt das erste Mal von weit oben runterzurutschen. Wenn ich aber gesehen habe, dass ihn das Mühe oder Überwindung gekostet hat, dann erwähne ich das. Und sehe somit nicht nur das Ergebnis - diesen kurzen Moment. Sondern sein wirkliches Tun. Und ihn selbst.

Dienstag, 27. November 2012

Pikler - ein Lebensstil

Wer mir hier auf diesem Blog, auf Facebook oder Twitter folgt, der weiß, dass der Name Pikler in meinem Leben eine große Rolle spielt. Auch privat werde ich oft angesprochen a la "Was sagt denn Frau Pikler dazu?" Und tatsächlich habe ich anfangs genauso gedacht. Wenn ich nicht weiter wusste, schaute ich, was Emmi Pikler oder Magda Gerber zu sagen hatten. Doch bald merkte ich, das Pikler mehr war als nur schwarz oder weiß. Ja oder nein. Richtig oder Falsch.

Pikler ist bunt. Kunterbunt. Das mag man nicht so recht glauben, wenn man nichts außer ihren mittlerweile doch sehr in die Jahre gekommenen Büchern kennt und sonst nichts. Wer sich im Zuge dessen bereits mit Magda Gerber angefreundet hat, der wird schon etwas farbenfroher in die Welt des Elternseins schauen.  Obwohl dazu natürlich auch die gewisse Portion an Selbstkritik und Reflexion gehört.

Aber was ist so viel mehr an Pikler, als ihr vehementes Befürworten der freien Bewegungsentwicklung und der ungeteilten Aufmerksamkeit während der Pflege ?

Gemeinsames Wachsen
Nun, es ist das Dazwischen. Viele glauben Pikler hieße, sein Kind den ganzen Tag lang am Boden liegend spielen zu lassen und sich nur während des Wickelns oder Fütterns wirklich mit ihm zu befassen. Wenn man jedoch einen einzigen kleinen Schritt hinzufügt, nämlich das Beobachten, dann ist man schon hundert Schritte weiter. Denn natürlich will kein Kind nur am Boden liegen und fröhlich glucksen. Die wenigstens geben sich mit einer liebevollen Pflegesituation zufrieden sondern fordern Mama und Papa wesentlich mehr. Manchmal sehr viel mehr, als wir gedacht hätten. Da hilft nur eins: Beobachten. Und zwar nicht nur das Kind und sein Tun und Handeln. Sondern das gesamte Rundherum. Unser Verhalten. Den Tagesablauf. Die Auswirkung von äußeren Einflüssen und Veränderungen. Entwicklungsbedingte Veränderungen. Eigene Prinzipien und deren plötzliche Verschiebung. Die eigene Partnerschaft. Bedürfnisse. Ängste.
Wenn man all das nun wirklich aufnimmt und miteinander in Zusammenhänge setzt, erzieht man plötzlich nicht sein eigenes Kind nicht mehr. Im Gegenteil. Man zieht und rückt an sich selber. Man schaut zurück auf die eigene Vergangenheit, die eigene Kindheit. Man überdenkt eigene Ansprüche und Vorstellungen. Und idealer weise kann man die noch mit dem Partner besprechen. Es entsteht ein Gemeinsames Wachsen. MIT dem Kind. Und das eigene Leben verschiebt sich. Ganz automatisch und leise.

Sich finden
In meinem Fall hat sich vieles verschoben. Dass ich unzufrieden mit meinem Job war, war schon lange vor der Schwangerschaft bekannt. Was ich jedoch stattdessen wollte, war immer ein großes Fragezeichen. Nach den ersten Besuchen im Spielraum war mir sehr klar, was es war, was ich wollte. Zumindest grob. Das ist nun 2 Jahre her und die Vorstellung wird bunter, aber auch dichter. Und bis zur Geburt und Karenzzeit mit Frau Klein habe ich Zeit, diese Vorstellung noch weiter zu detaillieren und auf mich wirken zu lassen. So dass ich dann neu und - man kann wohl sagen wohlüberlegt - in ein neues Abenteuer starten kann.

Viele (mich inbegriffen), die sich anfangs mit Pikler und ihren Prinzipien befassen, wollen aus lauter Begeisterung alle anderen davon begeistern und überzeugen. Das endet dann meist in unerwünschten Beiträgen und Kommentaren und Frustration auf vielen Seiten. Erst im Laufe der Zeit habe ich gemerkt, dass es nicht darum geht, alle anderen mitzureißen. Sondern darum, erst einmal seinen eigenen Weg zu finden. Und auf das Handeln und Reden anderer nicht zu reagieren, so lange niemand konkrete Fragen stellt. Und selbst dann bedarf es der Überlegung, ob eine Antwort oder ein Ratschlag überhaupt möglich ist. Gerade auf Twitter ist das eine Herausforderung. Dort wird man täglich mit Elternfragen konfrontiert. Aber die wenigsten davon richten sich an ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen. Viele wollen einfach nur mal Dampf ablassen oder hören, dass sie nicht allein sind. Da muss man dann Weiterscrollen oder Ausschalten. Auch das geht nur, wenn man gut bei sich angekommen ist.

Weiterentwickeln
Zur gleichen Zeit, als ich begann mich mit der Piklerpädagogik auseinanderzusetzen, begann ich auch, die Zeitschrift "Mit Kindern wachsen" zu lesen. Wer diese kennt, weiß, dass sie auch immer wieder sehr buddhistische Ansätze beinhaltet. Dass es dort sehr viel um Achtsamkeit geht. Und darum, im Moment zu sein. Bei sich zu sein. Zur inneren Ruhe zu finden. Klarheit. Sicherheit.
Wenn man sich weiterführend mit der Piklerpädagogik befasst, so kommt man genau dort auch hin. Dann stößt man über die einzelnen Themen, die einen als Eltern beschäftigen, auf eben diese Themen. Wie wichtig und hilfreich Achtsamkeit und respektvoller Umgang mit Kindern ist. Wie oft uns die Klarheit fehlt, die Sicherheit. Die innere Ruhe. Wie oft wir selbst nicht wissen, was uns eigentlich wichtig ist. Und was wir wollen.
Und so stellt man sich immer mehr Fragen. Und findet immer mehr Antworten. Antworten auf Fragen, von denen wir vorher gar nicht wussten, dass sie unser Leben dominieren. Auch schon, bevor wir Kinder hatten.

Kommunikation
Als Mitglied eines Wohnprojektes mit 50 Erwachsenen, die gemeinsam ein Haus bauen und dort gemeinsam leben wollen, ist eine gewisse Bereitschaft zu gewaltfreier und offener Kommunikation notwendig. Da kommt man mit "So ein Blödsinn" nicht weiter. Da braucht es ein "Was genau stört Dich daran?" um auf rutschigen Böden nach Gründen zu suchen und auf viel zu hohen Leitern gemeinsame Lösungen zu finden.
Mit Kindern ist das nicht anders. Ein einfaches "Nein. So nicht." hilft selten. Auch ein "Stell Dich nicht so an!" ist eher kontraproduktiv. Mit einem "Ich verstehe, dass Dir das schwer fällt." kann man jedoch mit dem Kind in Kontakt treten und auf wundersame Weise eine Kommunikation erzeugen, die leider selbst uns Erwachsenen oft nicht einfällt.

Kürzlich schrieb ein guter Bekannter in einer email an Freunde und Bekannte, dass seine Mutter verstorben sei. Ich wollte darauf antworten, aber fand keine Worte. Ein leeres "Herzliches Beileid" kam mir nicht über die Tasten. Tage vergingen, weitere emails schoben die Unannehmlichkeit nach unten und ich vergaß darüber. Bis ich ihm persönlich gegenüberstand. Einige Wochen später. Und während ich früher in so einer Situation krampfhaft versucht hätte, das Thema zu meiden und in "hoffentlich beidseitiger Vergessenheit" zu ahnen, fragte ich ihn einfach, wie es ihm ginge und ob er den Tod etwas verarbeitet hätte. Und plötzlich begann er zu reden. Ganz offen. Ganz ehrlich. Und ich brauchte nichts sagen, von all dem, was ich immer glaubte, was man so sagen muss, in so einem Fall. Ich musste nur zuhören und die passenden Worte kamen einfach so aus mir heraus. 

Da merkte ich, dass die Auseinandersetzung mit der Art der Kommunikation und überhaupt der Umgang mit Menschen, wie ich ihn in der Piklerausbildung kennenlerne, bereits in mich gesunken ist. Obwohl wir natürlich keine Dialoge lernen oder so etwas "üben". Es ist ein Teil des Ganzen, der in einem wächst, wenn man bereit dazu ist.

Befreien von Dogmen
Wenn man einmal seinen Weg gefunden hat, dann fällt es schwer - wie oben angedeutet - ihn nicht gewaltsam anderen Menschen aufzudrücken.
Vor allem Emmi Pikler wird von vielen als dogmatisch verstanden, von vielen vielleicht auch so kommuniziert. Ihre Tochter Anna Tardos selbst sagte auf der letzten PiklerSpielraumtagung: "Man darf nicht kämpferisch sein. Das schadet und erschreckt."
So ist es mit vielen Dingen im Leben. RaucherInnen und NichtraucherInnen, FleischesserInnen und VegetarierInnen, Religöse, Mehr- und Minderheiten sämtlicher Art können davon Lieder singen.
Ich war mal Raucherin und Fleischesserin. Und auch dogmatische Piklerverteidigerin. Heute beschäftige ich mich auch in verschiedenen Zusammenhängen mit Dr. Sears oder Rudolf Steiner. Nicht, weil ich alles, was sie sagen, plötzlich gut finde oder befürworte. Aber weil ich verstehen will, warum Eltern tun, was sie tun. Und wie man so vielleicht aus verschiedenen Ansätzen heraus viel buntere und durchaus weitreichend zufriedenere Lösungen finden kann.


Vieles von all dem oben gesagten kann man natürlich auch in anderen Lebensbereichen erfahren. Bewusst oder unbewusst. Einige tragen vieles bereits in sich, andere beschäftigen sich lange mit etwas, und kommen dennoch nicht an.
Ich habe all das zumindest indirekt durch die Auseinandersetzung mit der Piklerpädagogik erfahren, gelernt und verinnerlicht. Ich bin immer wieder überrascht wohin mich der Hinweis auf diesen einfachen Namen dieser ungarischen Kinderärztin, von der ich nie zuvor gehört hatte, geführt hat und immer noch führt. Für mich ist diese Pädagogik ein Lebensstil geworden, der in so vielen anderen Bereichen als in der Begleitung meines Kindes gelebt wird. Und ich bin gespannt, wo ich letztendlich wirklich gänzlich dadurch ankommen werde.

Dienstag, 30. Oktober 2012

Eindimensionale Erinnerungen

Als ich gestern die neue "Mit Kindern wachsen" durchblätterte, schlug mir ein Satz ziemlich brutal ins Gesicht: Die Geschwisterbeziehung ist die längste Beziehung im Leben. Mein erster Gedanke war: 'Nein. Ist sie nicht.'





Denn meine wurde nach 14 Jahren brachial beendet. Von heute auf morgen. Regen und geringes Reifenprofil ließen mich allein zurück in einem viel zu großen Zimmer und einer kräftig gerüttelten Familie. Einfach so. Ohne Vorankündigung.
Obwohl ich nicht weiß, was eine Ankündigung gebracht hätte. Einen längeren Schmerz? Eine Vorbereitung auf das gänzlich Unbekannte?

Als eine sehr gute Freundin mir ein paar Jahre später gegenüber saß, nachdem ihre Schwester nach 3-jähriger Krebskrankheit gestorben war, wussten wir beide nicht, wer es schwerer oder leichter gehabt hatte. Sie, die lange mitgelitten, Hoffnungen geschöpft und wieder fallen gelassen und am Ende enttäuscht aber erlöst war? Oder ich, die von jetzt auf gleich einen Schmerz erfuhr, auf den es doch in keinem Fall eine Vorbereitung zur Linderung hätte geben können? Und letztendlich war es egal.
Wir waren geschüttelt und am Ende. Am Ende eines langen gemeinsamen Weges. Keine Gabelung. Keine Kreuzung. Nicht einmal ein kleiner geheimer Pfad, auf dem man hätte davonlaufen können, um sich tief im Wald wieder zu treffen. Wir saßen in dieser Sackgasse fest. Jede für sich allein.

Aber heißt das wirklich, dass unsere Geschwisterbeziehung damit beendet war? Ich kann nur für mich sprechen. Und sagen: "Nein." Denn ich bin nun weder Einzelkind noch Erstgeborene meiner Eltern. Ich bin ein Mensch neben einem großen Loch. Und mit diesem Loch bin ich in Beziehung. Täglich. Sei es nur ein kleiner Gedankenblitz. Ein zufälliger Blick auf ein Foto. Ein Schwall an Erinnerungen. Oder ein tiefes Vermissen.
Das, was meine Geschwisterbeziehung von anderen unterscheidet, ist, dass sie eindimensional ist. So, wie meine Erinnerungen eindimensional sind. Es gibt niemanden, der sagt: "Nein, das war doch so und so. Erinnerst Du Dich nicht?" und ich sage: "Ja, stimmt. Das hatte ich ganz vergessen!"

Nein, ich erinnere mich an Dinge und Situationen und genau so verwachsen sie sich in meinem Kopf. Ich habe mit meinem Bruder "bei endlosen Autofahrten in den Urlaub die Rückbank des Autos geteilt, gemeinsam die versteckten Winkel des Gartens erobert , und die düsteren Ecken des Kellers." Aber schön sind sie nicht, die Erinnerungen. Fad. Ungewürzt mit einem bitteren Nachgeschmack. Eindimensional.

Aber ich hoffe, dass ich irgendwann bereit bin, diesen Artikel zu lesen. Ohne bitteren Nachgeschmack. Sondern mit sichtlicher Vorfreude auf die zweidimensionale und kunterbunte Geschwisterbeziehung, die Herrn Klein erwartet. Und uns.

Montag, 29. Oktober 2012

"Ding - was willst Du von mir?"

Wann auch immer Besuch zu uns kommt und die hölzernen Kippelscheiben sieht, werde ich recht bald gefragt: "Wozu sind die?" oder "Was macht man damit?"
Das sind wir. Erwachsene. Niemals ohne Aufgabe oder Ziel unterwegs.




Am Wochenende habe ich das Hengstenberg Seminar, das im Zuge der Piklerausbildung erforderlich ist, besucht. Ich wusste nicht wirklich, was mich erwartet und ob ich dickbäuchig und (fast schon) hochschwanger überhaupt sinnvoll daran teilnehmen könnte.
Und da war sie auch schon wieder - die Frage nach dem Sinn.

Viele der Übungen und Experimente in diesem Workshop wurden in 2 Gruppen aufgeteilt durchgeführt. Eine Gruppe die erforscht, spielt, experimentiert. Und eine, die beobachtet. Denn das Beobachten ist ein sehr wesentlicher Aspekt in der Arbeit mit Kindern. Wie sonst können wir das Kind als Individuum betrachten, wenn wir es nicht immer wieder in seinem Tun und Sein beobachten und neu kennenlernen?

Also saß ich da und beobachtete. Hörte mir an, was die einzelnen zu berichten hatten und fand mich nach einer kleinen Pause selbst am Boden liegend wieder. Und plötzlich dachte ich: "Was war jetzt nochmal die Aufgabe? Worum geht's hierbei?" Aber ich konnte die Frage nicht stellen. Niemand stellte sie und ich war offensichtlich die einzige, die schon wieder vergessen hatte. Also tat ich, was ich glaubte, was "richtig" sei. Und während ich so tat begannen meine Sinne selbsttätig und ungeleitet zu arbeiten. Ich hörte. Ich fühlte. All das noch mehr, als ich endlich die Augen schloss und mich voll und ganz darauf einließ. Worauf? Das spielte jetzt keine Rolle mehr. Ich ließ mich treiben und landete in einem Fluss der Wahrnehmung.

So wie Kinder sich treiben lassen. Ohne zu fragen: Worum geht's? Ist das sinnvoll? Was macht man damit?
Sie haben diesen Entdeckerdrang. Als Säuglinge am Boden liegend. Als Krabbelkinder. Laufend und Springend. Sie erforschen die Welt und dabei sich selbst. Sich selbst im Zusammenhang mit der Welt. Und sich selbst als eigenständiges Individuum. Und dieses Erforschen und Entdecken nennt man dann Spiel.

Heinrich Jacoby hat den Satz geprägt: "Ding - was willst Du von mir?" Und genau das beschreibt, wie Kinder ticken. Sie fragen nicht nach einer Aufgabe, einem Ziel. Sie lassen sich leiten. Sie tun einfach. Sie nehmen einen Stein, einen Stock, ein Blatt. Und erfahren freudig und lustvoll, was dieser mit ihnen tut, während sie mit ihm tun. Sie spielen. Und wenn wir sie lassen und ihnen nicht erklären, wie man womit spielt oder nicht spielt, was man womit tun kann um was zu entdecken, dann können sie sich diese Freude erhalten. Die Neugier. Und wir können uns an ihnen und ihrem Spiel erfreuen und neu erfahren, was es heißt, einmal nicht nach dem Sinn dahinter zu fragen.

Mittwoch, 24. Oktober 2012

Twitter, Facebook und mein Kind

Heute wurde ich auf Twitter von der lieben @_anitram gefragt, wie das mit dem Handygebrauch in Anwesenheit des Kindes aus Piklersicht denn so sei. Interessant, dass diese Frage nur wenige Tage nach meinem Explosionen post kommt. Und zu einer Zeit, in der ich sehr stark selbst an mir arbeite, um diesen Handygebrauch einzudämmen und die damit verbundenen Explosionen im Zaum zu halten.

Denn einiges ist in letzter Zeit klar geworden: Wenn Herr Klein aus der Krippe kommt, will er Mama. NUR Mama. Da akzeptiert er kaum, dass ich auch mal aufs WC muss. Schon gar nicht, dass ich mit einem kleinen blinkenden Display vor der Nase auf dem Sofa sitze. Warum hat es eine Weile gebraucht, bis ich drauf gekommen bin?

Woran ich mich festklammerte war zum einen der Gedanke, das die ungeteilte Aufmerksamkeit ja vor allem für die Pflegemomente galt. Das ist auch richtig und zu diesen Zeiten bekommt Herr Klein sie auch ungefragt. Kein Handy existiert beim Anziehen, beim Essen oder beim Abendritual. Aber in der Zeit zwischen Krippe und Abendessen gibt es nun kein Wickeln mehr und kein Essen, kein Baden und kein Anziehen. Woher soll er also Aufmerksamkeit tanken?
Zum anderen war da der Gedanke: Er muss auch akzeptieren, dass ich Zeit für mich brauche. Dass ich nicht 24/7 für ihn da bin. Das muss ich ihm klar vermitteln.
Aber diese Klarheit hat gefehlt. Denn es war ja keine fixe Zeit, in der ich "nicht verfügbar" war, sondern es war eine Durchmischung von Dasein und zwischendurch Aufs Handy schaun. Und das, nachdem er die letzten 7 Stunden getrennt von mir verbracht hat. Nicht unbedingt fair.

Was ist so schlimm am Handygebrauch in Anwesenheit des Kindes?
Theoretisch nichts. Telefone gab es schon immer und Kinder mussten lernen, dass ihre Eltern nur teilanwesend waren, wenn sie in ein Plastikgerät sprachen und dabei wild gestikulierten. Das kann ein Kind auch lernen. Ein Telefon klingelt und Mama ist für eine Weile abwesend.
Heutzutage sieht das anders aus. Das Telefon muss nicht mehr klingeln, es muss auch nicht piepen oder summen. Dennoch sitzen wir Erwachsenen wie gebannt davor. Wir sprechen nicht einmal mehr hinein, wir starren auf ein Display und sind in einer anderen Welt verschwunden. Eine Welt, die für Kinder nicht nachvollziehbar ist, die Gründe für uns selbst teilweise völlig unklar.
Täglich beobachtet man es auf Spielplätzen oder in öffentlichen Verkehrsmitteln: Eltern, die in Handys starren. Nur kurz aufblicken, wenn ihr Kind sie anspricht, abwesend lächelnd oder gar nicken, und weiter mit dem Daumen wild umhertippen.

Das ist sicher nicht, was Emmi Pikler mit ungeteilter Aufmerksamkeit meinte. Es ist aber auch nicht das, was sie eben so befürwortete: Die Auszeit der Eltern. Die Momente, in denen wir unseren Kindern erklären: "Ich bin jetzt beschäftigt. Wenn ich dies und das fertig habe, bin ich wieder für Dich da." Sei es Hausarbeit, das Lesen eines Buches oder einfach nur eine Tasse Kaffee. Denn all das ist nicht nur ok, es ist wichtig. Wichtig um Mensch zu bleiben und dem Kind gegenüber authentisch.
Aber das Handy katapultiert uns in ein Paralleluniversum, das dem Kind letztendlich unheimlich ist. Papa ist da, Papa reagiert auch, aber er wirkt mechanisch. Er ist nicht er selbst. Kein Wunder, dass die Kinder toben, uns die Handys aus den Händen reißen wollen oder - im Falle von Herrn Klein - all die Dinge anstellen, von denen er weiß, dass sie mich auf die Palme bringen. Bis ich oben bin, auf der Palme. Explodiert und schnaufend. Dann hat er zumindest eines: Die Aufmerksamkeit, die er wollte.

Nun sollen wir uns ja nicht entwöhnen und mühsam zurückkehren ins 20.Jahrhundert. Viel wichtiger ist es, Zeiten zu schaffen, in denen wir unseren Kindern diese ungeteilte Aufmerksamkeit bieten. In denen wir wirklich bewusst das Handy "vergessen" und voll und ganz beim Kind sind. Denn letztendlich ist es das, was wir viel zu selten tun. Auch wenn wir in Karenz 24h daheim sind mit dem Kind - wie viel Zeit verbringen wir wirklich am Boden oder in seiner Nähe sitzend? Die Gedanken nur auf das Kind gerichtet und interessiert an seinem Tun? Solange die Kinder mitten in der grobmotorischen Entwicklung stecken, tun wir das häufig. Wir sitzen neben ihnen, beobachten gebannt erste Dreh-, Sitz- oder Krabbelversuche. Sobald die Kinder laufen können und aktiver werden, werden die Zeiten, die wir mit ihnen wirklich gemeinsam verbringen, weniger. Mir ist das dann oft erst im Pikler-Spielraum wieder gelungen. Wo es nichts anderes gab als den Raum, das Kind und mich (und andere Eltern, die ebenso gebannt ihren Kindern zuschauten). Wie traurig aber, wenn man Geld bezahlt und das Haus verlässt, um das eigene Kind zu erleben. Und da wir nun keinen Spielraum mehr besuchen, versuche ich mir die Zeit daheim zu nehmen. Das heißt mittlerweile auch mal mitmachen. Mitspielen und abtauchen in eine Phantasiewelt, der es oft schwer ist zu folgen. Aber in der wir unsere Kinder erleben, wie wir es sonst selten tun. Nämlich voll und ganz vertieft. Ihr eigenes Leben verarbeitend. Beschäftigt. Glücklich und zufrieden über unser Interesse. Wer braucht da noch ein Handy ???

Wie oft sehnen wir uns danach, dass die Kinder sich "mal 5 Minuten selbst beschäftigen"? Gegenfrage - wie oft schaffen wir es, uns mal 5 Minuten voll und ganz auf sie einzulassen? Ohne Hausarbeit, den nächsten Tweet oder das Verlangen nach Kaffee im Kopf?

Vor allem für werdende Mütter ist das ein wichtiger Aspekt. Denn wenn ein zweites Geschwisterchen da ist, wird dem älteren Kind einiges an Aufmerksamkeit automatisch genommen. Um damit besser umzugehen, ist es wichtig, dass wir Mütter Zeiten schaffen, auf die sich das ältere Kind verlassen kann. Von denen es weiß: Dann ist Mama ganz sicher NUR für mich da. Dafür muss es aber die Erfahrung gemacht haben, dass es sich darauf verlassen kann, dass es diese Zeiten gibt. Ein Stück der wenigen Vorarbeit, die wir noch in der Schwangerschaft leisten können. Und was ist entspannter für den dicken Kugelbauch, als am Boden neben dem spielenden Kind zu sitzen? Ohne dabei die nächste Statusmeldung auf Facebook im Kopf zu formulieren.

Montag, 15. Oktober 2012

Explosionen

Wer meine blog posts so liest, der könnte meinen, die Frau Buntraum hätte alles im Griff. Da "funktioniert" das Kind. Die Welt ist wunderbar, weil sie immer am besten weiß, wie man wann wohl reagieren sollte. Aber ich kann Euch beruhigen. Auch ich explodiere. Und das nicht selten.







Gerade jetzt, in der Schwangerschaft mit Frau Klein, ist es um meine Geduld nicht allzu gut bestellt. Da kann es schon mal passieren, dass ich ausflippe. Weil Herr Klein, sagen wir, nach dem Gang auf den Topf seine Hose nicht wieder anziehen will, aber verkühlt ist und ich es für WICHTIG halte. Das sage ich auch. In ca. 3 verschiedenen Variationen. Immer lauter werdend. Mit immer anderen Worten vermischt. Aber dieses Kind will. einfach. nicht. hören. Nein - auch auf mich nicht. Frau Superbelesen und in verschiedenen Ausbildungen steckend, wo genau solche Situationen immer wieder Thema sind. Und alles so logisch erscheint und klar.
Nein, in solchen Momenten bin ich eine ganz normale Mutter.

Aber ob Mutter oder FamilienberaterIn/begleiterIn/pädagogIn - ich habe hier zwei Möglichkeiten:

1) Ich kann mich maßlos ärgern und aufregen. Darüber, dass dieses Kind nicht hören will. Dass es trotzt und bockt anstatt sich ganz einfach diese Hose anzuziehen. Ich kann sogar noch weiter gehen und mich bei Verwandten oder Bekannten (oder im Social Web bei "Fremden") darüber auslassen, wie knietief dieses Kind gerade in der Trotzphase steckt und wie unglaublich mühsam und anstrengend das ist. Und dann kann ich schauen, was weiter passiert.

oder aber:

2) Ich kann mir eine ruhige Minute nehmen - entweder jetzt gleich, während das Kind sich weiterhin weigert, oder später am Abend ganz in Ruhe. Und dann kann ich überlegen, warum diese Situation WIRKLICH eskaliert ist. Denn dass ein Kind einer Bitte oder Aufforderung nicht nachkommt, geschieht ja häufiger. Allerdings gibt es Momente, in denen wir das gut aushalten und gemeinsam einen Weg finden. Und dann gibt es diese Eskalationen.

Dabei tut es gut, einen Schritt zurückzutreten und nicht nur diese Situation zu rahmen, sondern die Umgebung mit, den ganzen Tag, die Stimmung, die Atmosphäre. Und recht bald werden einem einige Dinge einfallen. Dass man unzufrieden ist - sei es mit der Unordnung im Haus und des Nichtnachkommens mit der Hausarbeit, mit dem eigenen Wohlbefinden oder mit Ärger, den man aus der Arbeit (unbewusst) mit hinausgetragen hat. Es können einfache Dinge wie Müdigkeit oder Hunger sein, oder auch Gereiztheit auf Grund von ... Nun, da gibt es wohl genügend Gründe. Oft kann man feststellen, wie man dem Kind recht schnell eine grantige Laune und Trotz unterstellt, bis man darauf kommt, dass das Kind ja nur unsere schlechte Laune spiegelt.

Egal was man entdeckt - es ist eine Reflexion. Eine Reflexion von Situationen und Stimmungen, die immer wieder auftreten werden. Und die man so vielleicht lernen kann zu verhindern. Oder vor dem großen Knall abzubrechen.
Vielleicht steht man aber auch einfach nur an. Nichts, was ein wirklicher Grund für diese Eskalation sein könnte, will einem einfallen. Dann gilt es, diese Situationen über einen längeren Zeitraum zu beobachten. Und spätestens dann wird etwas auftauchen.

All das mag mühsamer klingen, als sich zurückzulehnen und zu behaupten, das Kind sei "In einer Phase". Aber auf längere Sicht ist es - davon bin ich überzeugt - die gesündere Variante. Weil sie hilft, unser Kind UND uns selbst besser zu verstehen. Einen gemeinsamen Weg zu finden, anstatt "Law und Order" durchzusetzen.

Also nein, ich bin nicht perfekt. Ich weiß nicht immer Rat und einen glatten Ausweg. Aber letztendlich würde mich das auch zu einer perfekten Puppe machen, mit einem perfekten Kind und einem perfekten Leben. Wie fad wäre das denn ?

Dienstag, 25. September 2012

Extrawurst

Kürzlich wurde uns in zwei verschiedensten Arten mitgeteilt, dass Herr Klein sehr ungehalten und ungeduldig reagiere, wenn es in der Krippe in den Garten geht und ihm niemand SOFORT beim Anziehen hilft. Das kommt mir sehr bekannt vor. Und ich frage mich, warum es so schwer ist, darauf einfach einzugehen ?






Dass die erste Mitteilung zwischen Tür und Angel Freitags untermalt von hektischen Bewegungen der Pädagogin stattfand, möchte ich jetzt gar nicht weiter anreißen. Vielmehr bin ich froh, dass Herrn Groß gestern auf freundliche und ruhige Art und Weise mitgeteilt wurde, was das eigentliche "Problem" ist. Eben, dass Herr Klein so unglaublich gern in den Garten geht und es nur schwer aushält, wenn andere Kinder vor ihm angezogen und hinausgeschickt werden. Ja, er beginnt zu weinen. Nein, er kann sich auf Bitten und Drängen der PädagogInnen derweil nicht die Schuhe selbst an ziehen. Weil. Er. Es. Noch. Nicht. Kann. Nein, Abwarten und geduldig sein sind obendrein momentan nicht seine Stärke.

Meine eigentliche Frage ist nun jedoch: Worin liegt das Problem wirklich? Darin, dass die PädagogInnen es nicht aushalten, wenn ein Kind ungeduldig und weinerlich ist? Das trifft wohl auf die Person zu, die mich ebenso ungeduldig und ungehalten zwischen Tür und Angel angesprochen hat. Aber womöglich auch darin, dass es bei 20 Kindern einfach stressig wird, wenn eins (oder gar mehrere) die Zeit nicht abwarten kann.
Oder verbirgt sich hinter dem eigentlichen Problem nicht das wahre Problem - nämlich das, dass das Kind hier ein Bedürfnis äußert, welches ihm enorm wichtig ist. Und welches in beiden Fällen von der Pädagogin als nicht so wichtig anerkannt wird. Nämlich - dass dieses Kind unglaublich gern in den Garten geht und es ihm unglaublich wichtig ist, dort als einer der ersten zu sein. Also könnte man doch schauen, dass es als eines der ersten angezogen und hinausgeschickt wird. Eine unverfrorene Erwartung aus Muttersicht? Ich sage: Nein! Stattdessen nenne ich es: Simples Erkennen von Tatsachen. Anerkennen von (uns oft unverständlich) dringlichen Bedürfnissen.

Doch das fällt uns oft nicht ein. Wie kommt ein Kind dazu die Extrawurst zu spielen und "bevorzugt" behandelt zu werden? Denn so würde es doch aussehen. Und wer kennt ihn nicht, den Satz aus der Kindheit: "Musst Du immer eine Extrawurst spielen?"
Das denken sie also. Die Erwachsenen. Die am Flughafen aufspringen, wenn die Passagiere der Gruppen A&B aufgerufen werden, nur, um ihnen mit ihren Gruppe D Tickets in den Händen im Weg zu stehen. Die vor der U-Bahn Trauben bilden, weil der Zug ja ohne sie abfahren könnte. Die wegen einem neuen smartphone umringt von hunderten anderen Menschen vor einem Geschäft mit Obstaufdruck hausieren. Genau diese Leute glauben, wir würden unsere Kinder verziehen, wenn wir auf ihre Bedürfnisse eingehen.

Ich wünsche: Umdenken bitte! Dem Kind einfach nur hin und wieder die Aufmerksamkeit schenken, die ihm gerade gut tut. Sagen: "Es ist Dir grad sehr wichtig, ganz schnell in den Garten hinauszukommen. Weil Du da so gern bist." Dem Kind somit das Gefühl geben, verstanden zu werden.
Nein, ich bin nicht ganz so naiv und weiß, dass ein Krippen- oder Kindergartenalltag nicht so abläuft, wie wir Mütter uns das oft wünschen. Wenn es dann also nicht immer möglich ist, das Kind mit als eines der ersten anzuziehen, so kann ich zumindest sagen: "Das fällt Dir grad sehr schwer zu warten. Ich werde Dir helfen sobald ich hier fertig bin."

Wenn wir den Kindern nicht nur mit Druck und Erzieherdrang begegnen und erwarten, dass sie sich unseren Vorstellungen von Abläufen anpassen, so werden wir Menschen aus ihnen machen, die gar nicht erst das Gefühl entwickeln, sie würden etwas verpassen. Weil sie verstanden wurden, wissen, dass ihre Gefühle und Bedürfnisse gut und normal sind. Und weil sie gelernt haben damit umzugehen, wenn nicht sofort auf sie eingegangen werden konnte. Weil sie nicht als Extrawurst abgestempelt, sondern hin und wieder auch als Extrawurst behandelt wurden.

"Im Laufe der primären Sozialisation begegnet es einer sich weitenden Welt und lernt dabei unablässig, durch den Erwachsenen aktiv unterstützte, Erwartungen in verschiedenen Situationen zu berücksichtigen, ohne sich selbst aufzugeben. Soziale Erwartungen zu erkennen, zu verstehen und zu erfüllen und dabei zugleich eigene Interessen zu entwickeln und zu entfalten, ist eine anspruchsvolle Aufgabe für das kleine Kind, bei der es oft im Spannungsfeld zwischen seinen Wünschen und den Erwartungen der Umgebung steht.
Wir helfen dem Kind, wenn wir uns in seine Schwierigkeiten hineinversetzen, wenn wir ihm Erwartungen geduldig, friedlich und konsequent vermitteln, wenn wir die Gründe für unsere Erwartungen sprachlich ausdrücken, wenn wir die Wünsche der Kinder anerkennen und ihnen einen angemessenen Raum geben, ohne unsere berechtigten Absichten aufzugeben."
(Anna Tardos, Anja Werner "Ich, Du und wir. Frühes soziales Lernen in Familie und Krippe")

Sonntag, 23. September 2012

Da sitz ich nun

Ein wesentlicher Aspekt der Arbeit Emmi Piklers war die autonome Bewegungsentwicklung. Das Kind sich motorisch selbst entwickeln zu lassen. Zu seiner Zeit. In seinem eigenen Tempo. Ohne es vorzeitig aufzusetzen, an den Händen zu führen. Für viele klingt das logisch, einleuchtend und natürlich. Aber erst, wer plötzlich Eltern wird, weiß, wie schwer es sein kann, das Kind "sein" zu lassen.


Oft taucht die Frage auf, WARUM das so wichtig sei. Alle Kinder würden ja früher oder später sitzen, krabbeln, stehen und gehen lernen. Das ist auch richtig. Aber in welcher Qualität können sie das? Und um welchen Preis haben sie das "nachhelfend" vorzeitig gelernt, wenn wir ihnen wortwörtlich "unter die Arme greifen" ?

Das klingt nun ein wenig weit hergeholt. Aber erst kürzlich, als wir im Pikler Grundkurs ein Experiment durchgeführt haben, wurde mir wieder bewusst, wie wesentlich eben genau diese freie Bewegungsentwicklung ist. Wie wertvoll. Und wie viel uns davon bereits verloren gegangen ist.

Da saßen wir also. Minuten, die sich wie Stunden anfühlten. Ohne Stützen. Im Raum verteilt. Wir sollten einfach sitzen und spüren, wann und wo es unangenehm wird. Hineinführen und schauen, welche Bewegung es braucht, um wieder angenehm zu sitzen.
Während der ganzen Zeit sprach niemand ein Wort. Wir hatten die Augen geschlossen, um genauer spüren zu können. Das einzige, was zu hören war, war die ständige Bewegung aller. Niemand hielt es lange in einer Sitzposition aus. Das Verlangen danach sich anzulehnen oder gar hinzulegen war enorm groß.

Im Vorfeld hatten wir uns Bilder von sitzenden Babies und Kleinkindern angeschaut. Wie entspannt sie wirkten, ins Spiel vertieft. Der Rücken aufrecht, die Beine ausgestreckt. Sich ihres Körpers bewusst und offen für jede neue Bewegung. Leicht. Und locker.

Wir hingegen kamen nicht zur Ruhe. Den Grund hierfür nennt Heinrich Jacoby "Zweckmäßigkeit". Kinder tun nicht mehr und nicht weniger, als sie müssen. Sie beanspruchen nur die Muskeln, die für die jeweilige Bewegung oder Position notwendig sind. Sie sind weder Couchpotato noch Zollstock. In all ihrem Tun wirken sie natürlich. So wir sie denn lassen.

„Ein Kind, dem man weder bei den Aufrichteversuchen zum Sitzen und Stehen, noch bei den ersten Laufversuchen hilft, dem man keine Hand gibt, um es hochzuziehen oder zu stützen, wird von Anfang an selb-sitzig und selb-ständig sein und bleiben. Aber wie viel Selbstdisziplin des Erwachsenen ist notwendig, damit er nicht eingreift! Es ist eine der wichtigsten und entfaltendsten Aufgaben, die das Leben schon dem Säugling stellt, sich beim Sichbewegen mit seiner Unterlage und mit seiner Last auseinandersetzen zu müssen. Nichts anderes steckt hinter dem Problem des Sitzens, Stehens und Laufens. Ein Kind, das sich die Beziehung zu seiner Körpermasse ohne fremde Hilfe erarbeitet hat, wird diese Beziehung kaum mehr verlieren und auch in anderer Beziehung selbständiger, unabhängiger, weniger anlehnungsbedürftig sein als das Gros unserer Zeitgenossen." (Heinrich Jacoby)

Betrachten wir nun also das Beispiel eines Babys, das von seinen Eltern aufgesetzt wurde, bevor es selbstständig fähig war, diese Position zu erreichen. Da es also nicht von allein in die Position gekommen ist, weiß es auch nicht, wie es wieder herauskommen kann. Rollt ihm nun ein Spielzeug davon, kann es ihm nicht nach. Ermüden seine Muskeln, kann es nicht einfach nachgeben und die Bewegung entsprechend ändern. Sein Bewegungsradius ist ebenso eingeschränkt, da es nun mit aller Kraft damit beschäftigt ist, in dieser Position zu bleiben ohne umzufallen.

Für die Muskeln bedeutet es eine Anstrengung, die unnatürlich ist. Weder Übung noch selbst initiiertes "Training" haben geholfen, genau die und NUR die Muskeln aufzubauen, die für die jetzige Position notwendig sind. Der Körper gerät in ein Ungleichgewicht, welches zu Blockaden und Verspannungen führen kann.

Aber was, wenn das Kind unzufrieden scheint? Wenn es doch mehr von der Welt sehen will und frustriert ist, weil es immer und immer wieder "versagt" im Versuch, sich aufzusetzen, sich fortzubewegen, sich aufzurichten?
Oft sind wir es, die mit den Frustrationen unserer Kinder nicht klarkommen. Das ist natürlich. Das weinende, schreiende oder schimpfende Kind ist kein Begleiter, der uns Freude bereitet. Dennoch sollten wir uns bewusst sein, wie wesentlich diese Erfahrung von Schwierigkeiten für unsere Kinder ist.

„Wir alle kennen diese ursprünglichen Regungen der Kinder, die immer wieder darauf hinauslaufen, allein probieren zu wollen.
Wir sollten nur noch mehr darum wissen, dass diese unermüdliche Überwindung von Widerständen aus eigener Initiative dem Kind jene Spannkraft verleiht, die wir ihm zu erhalten wünschen, und dass die Freude an der Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten darauf beruht, dass es selbständig beobachten, forschen, probieren und überwinden durfte." (Elfriede Hengstenberg)


Nicht nur, um den ihren eigenen Körper eigenständig und zweckmäßig zu entwickeln, sondern auch für die späteren schwierigen Erfahrungen, die das Leben bereit hält.

„Wesentlich ist, dass das Kind möglichst viele Dinge selbst entdeckt. Wenn wir ihm bei der Lösung aller Aufgaben behilflich sind, berauben wir es gerade dessen, was für seine geistige Entwicklung das wichtigste ist. Ein Kind, das durch selbständige Experimente etwas erreicht, erwirbt ein ganz anderes Wissen als eines, dem die Lösung fertig geboten wird." (Emmi Pikler)

Dennoch möchte ich auf eines hinweisen. Wenn davon geredet wird, das Kind "sein zu lassen", seine Entwicklung sich selbst zu überlassen, so meine ich nicht, dass wir das Kind "liegen lassen" und zuschauen, wie es sich müht. Nur damit es lernt, auch mit Schwierigkeiten klarzukommen. Es gibt einen kleinen feinen Weg zwischen dem "Helfen" und dem "Sein lassen". Ich nenne es - das Begleiten. Das Kind zu beobachten und somit zu sehen, was es gerade beschäftigt. Dem Kind Worte für seine Mühen, aber auch seine Erfolge zu geben. Es zu trösten, ohne es abzulenken und ihm Lösungen darzulegen.

Der Erwachsene ist und bleibt wesentlicher Wegbegleiter des Kindes. Nicht Wegliebender, Wegförderer, nicht Weglasser.
Natürlich lieben wir unser Kind und wollen das Beste. Wollen es fördern, ohne es zu fordern. Genau das bedeutet - es zu lassen, ohne es allein zu lassen.
Wie ich sagte - ein feiner Weg. Ein Grat. Den es lohnt zu gehen. Denn auch wir werden an ihm wachsen und uns selbst neu entdecken.

Donnerstag, 6. September 2012

Alles muss raus

Im Sommerurlaub waren wir mit Herrn Klein auf einem Spielplatz. Da er sich vorher Wasser über sein T-Shirt gekippt hatte, und ihn so etwas wahnsinnig stört, ließ ich ihn eine Weile oben ohne herumlaufen, bis die Sonne das T-Shirt getrocknet hatte.
Es dauerte nicht lange, bis uns eine Dame ansprach "Ist er auch ein Herzkind?"
Herr Klein war bisher noch nicht allzu oft nackt in der Öffentlichkeit gewesen, und somit war ich recht überrumpelt.


Es stellte sich jedoch in einem Gesprächsschwall, der aus der Mutter in wenigen Minuten heraussprudelte, heraus, dass ihr Sohn Elias, fröhlich und blondgelockt, ebenfalls mit einem Herzfehler geboren war. Einem wesentlich komplexeren. Not-OP direkt nach der Geburt, lange Zeit im Krankenhaus, Herzschrittmacher, monatliche Kontrollen auch heute noch. Elias ist 3.
Wenig später gesellte sich ihr Mann dazu. Eben noch genervt, dass sie noch immer am Spielplatz umherliefen, und nicht an der Kasse zum Affenzoo anstanden, war auch er innerhalb weniger Sekunden in Erzähllaune, nachdem er erfahren hatte, warum seine Frau nicht planmäßig dort war, wo sie sein sollte.

Ich überließ einen Großteil des Gesprächs Herrn Groß und kümmerte mich derweil um Herrn Klein. Und mein Gehirn begann zu rattern.
Diese Familie hatte offenbar enormen Gesprächsbedarf, wenn sie so schnell so offen ihre Geschichte darlegten. Sie waren gebeutelt. Natürlich. Und hatten scheinbar nicht genug Ventile, um sich selbst etwas zu befreien.
Als wir uns verabschiedeten, wirkten sie fröhlich, wünschten uns Alles Gute und spazierten davon. Ein wenig leichter.

Vor ein paar Wochen kam ich am Spielplatz in Wien mit einer Großmutter ins Gespräch. Sie war mit Enkel (1) und Enkelin (4) unterwegs. Die Mutter des Enkels lag schwanger mit strenger Bettruhe zu Hause. Die Mutter der Enkelin lebte gar nicht mehr. Dramatische Geschichten stürzten auf mich ein. Am Ende verabschiedete sie mich fröhlich winkend und wünschte mir alles Gute für die restliche Schwangerschaft. Sie hatte Luft gemacht.

Es ist so leicht zu sagen - Reden hilft ! Nicht immer sind wir dann, wenn gerade jemand zum Reden da ist, in der Stimmung. Nicht immer haben wir das Bedürfnis danach. Aber wenn es da ist, ist es oft schon unwichtig, wer der Schwamm ist, der das Gesagte aufsaugt. Auch wenn er es nachher wieder aus sich quetscht.
Oftmals ist es sogar gut mit Fremden zu reden. Die einem nicht Nahe stehen, nicht so schnell von Mitleid getragen die Gesichter langziehen.

Wenn ich zurückdenke, so fällt mir auf, dass ich (bzw. Herr Groß) in den Gesprächen selbst nicht viel gesagt haben. Das war auch gar nicht nötig.
Allzu oft glauben wir, dass wir auf gefühlsträchtige Sätze reagieren müssen. Die "richtige" Antwort finden. Dabei ist es manchmal viel hilfreicher, nichts zu sagen, das Gesagte wirken zu lassen, und der Person mir Gegenüber Raum zu geben. Raum zum Reden. zum Weinen. Zum Fühlen. Zum Sein.

Donnerstag, 23. August 2012

Sprich mit mir !

Letztes Wochenende hat sich Herr Klein seine Lippe an dem Metallbügel einer Wippe aufgeschlagen. So arg, dass wir hin- und hergerissen waren zwischen Nähen lassen oder nicht. Die Meinungen der herbeieilenden Mütter am Spielplatz waren ebenso divers. Und da Herr Klein leicht unter Schock stand, beschlossen wir eine kurze Fahrt ins Krankenhaus.

Dort musste Herr Klein geröntgt werden. Dank eines großen Schildes mit dem Hinweis auf Schwangerschaften blieb ich draußen und lauschte dem lauten Schreien meines Sohnes. Herr Groß versuchte drinnen verzweifelt Herrn Klein zu erklären, was geschehen würde. Die Assistentin, die das Röntgen durchführte, sagte daraufhin nur zu ihm: "Redens ned so viel. Legens ihn da her, in einer Minute isser wieder draußen. Der hört eh ned auf zu Schreien."
In solchen Momenten ist man leider oft sprachlos. Aber es würde wohl auch nichts bringen, sich in Situationen, in denen das Kind nichts als Unterstützung und Beistand von uns braucht, in einen Streit mit anderen zu verfallen. So muss man lernen auszublenden. Und ganz beim Kind zu bleiben.

Denn wieso ist es so wichtig, dem Kind in solchen Situationen genau zu erklären was passiert?

In Anbetracht der Tatsache, dass der finstere Raum mit den überdimensional großen Geräten extrem bedrohlich wirkt (teilweise ja für uns Erwachsene schon), dass man den soeben erlebten Besuch im Sprechzimmer beim Arzt noch nicht ganz verdaut hat und dass womöglich die Lippe noch schmerzt und der Schock noch nachwirkt, sind das enorm viele Eindrücke, für so einen kleinen Kopf. Die gehören verarbeitet. Denn wenn wir uns an einen Unfall - egal wie klein oder groß - erinnern, so ist immer etwas Unbehagen dabei. Wir erinnern uns an Details, an Schmerzen oder den Schreck allein. Aber: wir haben Worte dafür. Können diese Dinge (zumindest im Kopf) benennen und uns oftmals logisch erklären. Kinder - vor allem vor und während des Sprachbeginns - können das nicht. Dennoch tragen auch sie Erinnerungen und Unbehagen mit sich herum. Dieses können sie dann nicht anders äußern als durch Weinen. Weinen in Situationen, in denen wir es womöglich nicht erwarten und nicht verstehen. Das führt zu einem Unverständnis ihrer Gefühle und somit zu einer ziemlich turbulenten Spirale, die wir dann womöglich einem "launischen Kind" zuschreiben.

Herr Kleins Verarbeitung des Geschehenen sah so aus:
Noch am selben Nachmittag, endlich aus dem Krankenhaus wieder draußen, einem kühlenden Eis auf der Lippe, wollte er zurück zum Spielplatz. "Spielplatz weh getan!" sagte er. Dort angekommen führte er uns direkt zur Wippe und sagte wieder: "Da weh!" Er inspizierte den Metallbügel, an dem noch etwas Blut zu sehen war und wiederholte "Doll weh!"

Später fügte er diesen Erzählungen hinzu: "Doktor!"
"Ja, wir waren im Krankenhaus beim Doktor."
"Foto!"
Genau, da haben sie Dich geröntgt und ein Foto von Deinem Kopf gemacht."
"Papa!" (hält dabei seine Hand auf seine Brust)
"Ja, der Papa war dabei und musste Dich festhalten."
Herr Klein nickte nach jedem Satz bestimmt und in vollstem Verständnis.

Dieser Dialog findet seitdem mehrere Male täglich in unserem Haus statt. Und er zeigt mir, wie oft dieses Erlebnis in seinen Kopf schießt. Und letztendlich müssen doch auch wir ganz oft, immer und immer wieder, von einem Erlebnis erzählen, bis auch wir es etwas verdaut und verarbeitet haben und sagen können: "so, und jetzt will ich mal nichts mehr davon hören."


Wie wichtig ist es nun (wenn möglich) im Vorfeld den anstehenden Ereignissen Worte zu geben?

"Mein größter Wunsch wäre aber, dass wir alle Eltern, Hebammen, Schwestern und Ärzte lernten, Babys, wann immer dies möglich ist, bevorstehende Eingriffe vorab zu erklären und dann mit Worten zu begleiten; so könnten wir unseren Kindern am Anfang ihres Lebens viel Leid ersparen." (Dr. Wolfgang Schaller, Kinderarzt)

Bei einer Impfung zum Beispiel. Oder Operation.
Wir neigen dazu unseren Kindern "unnötige Ängste" zu ersparen, sie zu beschützen und so lange wie möglich "fröhlich" zu sehen. Was aber bedeutet es für ein Kind, ohne weitere Ankündigung zum Arzt mitzugehen, um dann dort plötzlich einer Nadel entgegenzublicken. Oder schlimmer noch - in ein Krankenhaus zu fahren, ohne wirklich zu wissen, was es dort erwartet?
Egal in welchem Alter - ein Kind ist geschockt. Und verletzt. Es hatte gar keine Zeit, sich seiner Ängste bewusst zu werden. Geschweige denn, diese in irgendeiner Art und Weise zu bearbeiten. Und egal wie sehr wir nun glauben, dass dies der bessere Weg war, des geringsten Widerstandes und der wenigsten Tränen - es wird auf lange Sicht der mühsamste werden. Denn dieses Kind wird das Erleben nicht einfach vergessen und nie wieder darüber reden. Es wird es bewusst oder unbewusst mit sich tragen, im schlimmsten Fall durch dieses Unwissen noch verstärken und verschlimmern. Das sind dann die Ängste im Erwachsenenalter, die uns unerklärlich sind. Warum haben wir Angst vorm Zahnarzt, vor Spritzen oder Injektionen, vor plötzlichen Berührungen, vor großen Räumen, vor langen Gängen... etc. etc.

Es ist nicht ganz überraschend, dass so viele Eltern doch genau diesen Weg wählen. Im Glauben ihre Kinder zu schützen und zu bewahren tun sie in Wirklichkeit nur eins: sich selbst beschützen. Vor der Angst des Kindes und dessen Auseinandersetzung damit. Es ist ihnen nicht zu verdenken. Haben wir doch oft selbst nicht gelernt mit unseren eigenen Ängsten umzugehen. Wer kennt sie nicht, diese "Klassiker" von "Hat doch gar nicht weh getan!" bis hin zu "Schau, der Bub hat auch nicht geweint!"

Wenn wir jedoch unser Kind wirklich schützen und in dieses Leben, in dem uns nunmal unweigerlich Unannehmlichkeiten und Ängste begegnen, gestärkt hinauslassen wollen, so ist es sinnvoller, von Anfang an offen und ehrlich mit ihm zu sein.

"Unserer Ansicht nach hintergeht man die Kinder, wenn man sie, ohne es ihnen anzukündigen, überraschen von hinten impft. Es erschwert ihnen zu verstehen, was und warum etwas mit ihnen geschieht. Deshalb verheimlichen wir ihnen weder den Schmerz, noch sein Ausmaß, indem wir ihnen sagen, es tat nur wenig weh. Wir erwarten nicht, dass das Kind mutig und tapfer ist. Wenn es weint, ist dies eine natürliche und angemessen Art, seinen Schmerz und seine Angst auszudrücken. Wir wollen erreichen, dass das Kind durch das unangenehme Erlebnis möglichst wenig erschüttert wird und ihm das Vertrauen zu den Erwachsenen erhalten bleibt. Soweit es an uns liegt, bewahren wir die Kinder auf diese Weise davor, unbewusst in der ständigen Unsicherheit zu leben, dass ihnen unvorhergesehen etwas Schmerzhaftes begegnen könnte." (Katalin Tüzes, "Monika wird geimpft" aus "Im Dialog mit dem Säugling und Kleinkind", Piklergesellschaft Berlin)

Freitag, 17. August 2012

Der Terror der Kinder




Kürzlich war ich mit der Vorgeneration spazieren. Herr Klein wollte sich nicht so recht dem Tempo anpassen und spazierstand an jedem Stein und Blatt minutenlang fest. Anstatt etwas zu sagen, ihn zu drängen, schaute ich ihm begeistert zu. Die Vorgeneration nannte das den "Terror der Kinder" - die Macht zu haben. Dass Eltern erst zufrieden seien, wenn es die Kinder sind. Und ich dachte mir: "Genau. So ist es."

Nein, ich bezeichne das nicht als Terror. Aber auch ich bin erst dann zufrieden, wenn mein Kind es ist. Das heißt nicht, dass er jeden Wunsch erfüllt bekommt und machen kann, was er will. Es heißt, dass ich akzeptiere, dass es Momente gibt, in denen unsere vorprogrammierte Meinung oder Einstellung nicht immer wirklich die richtige ist. Denn das ist es doch, was diese sogenannten Machtkämpfe und Trotzanfälle auslöst - das auf Biegen und Brechen nicht abweichen wollen der Eltern von ihrer Meinung. In Situationen, in denen das Kind genau das Gegenteil braucht - Verständnis und Unterstützung. Nein, nicht die Schokolade oder das Spielzeugauto des anderen Buben. Aber die Erlaubnis, genau das unbedingt haben zu wollen, weinen zu müssen, weil man es nicht haben kann. Wütend sein zu dürfen, weil die Mama das Brot halbiert hat, obwohl man die ganze Scheibe wollte, weil die Milch in der blauen Tasse serviert wird, obwohl man die rote wollte. Was ist nun das einfachste? Auf der blauen Tasse beharren, weil man das Theater unnötig und als Terror empfindet? Oder die Milch umschütten und dem Kind sagen, dass man nicht gewusst hat, dass ihm die Farbe so wichtig war.
Im Falle von Herrn Klein ist hier längst nicht Schluss. Er kann sehr wohl nun die rote Tasse wegschieben und die Milch komplett verweigern. Weil er sich so dermaßen ärgert. Dann muss ich lächeln und mich erinnern, wie ich als Kind auf den Mädchenlöffel beharrt habe (der mit Verzierung) und mein Bruder mir den Jungenlöffel (den schlichten) gab und niemand meine Wut und meinen Ärger verstand, ich stattdessen noch für hysterisch und lächerlich gehalten wurde. Aber das ist es genau. Diese kleinen feinen Situationen, in denen wir glauben, die "Übermacht" behalten zu müssen, weil die Kinder doch lernen müssen sich... ja was eigentlich? Unterzuordnen? Zu folgen? Warum können wir nicht mal einen Schritt zurück gehen, die Situation neu betrachten und feststellen - gut, fahren wir noch ein paar Stationen mit dem Bus. Wenn es Dir so viel Freude bereitet. Kein Termin, kein Zeitdruck - fahren wir von Endstation zu Endstation. Am Ende des Tages liegt ein Kind im Bett, dass kurz vorm Eindösen noch einmal aufschreckt und sagt: "Bus fahn!" Ein glückliches und zufriedenes Kind.

Nun, der Vorgeneration fällt dieses Denken schwer. Verständlich. Sie haben getan, was sie für richtig hielten. Haben ihrer Meinung nach einen "ganz guten Job" gemacht in unserer Erziehung und sind seit Jahren und Jahrzehnten in gewissen Mustern eingefahren. Den wenigsten bleiben Zeit und Motivation für Selbstreflexion und neuerliches Nachdenken über Dinge, die sie vor ca. 30 Jahren beschäftigt haben. Auch verständlich. Denn Selbstreflexion kann schmerzvoll sein. Etwas anderes, womit wir oft nicht gelernt haben umzugehen. Schmerz. Egal ob seelisch oder physisch.
Wenn sich Herr Klein barfuß den Fuß an etwas blutig tritt und bei eingehender Untersuchung des Fußes bitterlich weint, betrachte ich das als natürliche Reaktion sowohl auf den Schock des blutroten Fußes als auch die besorgten Blicke der Eltern , die ihn untersuchen. Nicht zu vergessen den eventuellen Schmerz im Fuß. Die Vorgeneration sieht es als übertriebenes Aufmerksamkeitsgebettel und meint, dass bis zur Hochzeit eh alles wieder gut wäre. Oft ist es das auch, nur sind bis dahin andere Dinge "kaputt", die wesentlich schwerwiegender zu heilen sind.

Doch bevor ich nun der Vorgeneration ein großes Schuldschwert umhänge, möchte ich sie in Ruhe lassen. Selbst begebe ich mich nur äußerst selten in Diskussion mit ihnen, da ich ihre Position ein wenig versuche zu verstehen. Oder zu akzeptieren.

Leider gibt es nur noch immer sehr viele Eltern, die ebenso der Meinung sind, ihre Kinder würden sie manipulieren wollen, ihnen auf der Nase herumtanzen, wenn sie nicht streng "dahinter wären" und dass Kinder sowieso erzogen gehören, damit aus ihnen "etwas" (was eigentlich?) wird. All diesen Eltern wünsche ich, dass sie eines Tages die gleiche Entspannung erleben, die ich erlebt habe, als ich festgestellt habe, dass ich mein Kind zu nichts erziehen muss. Dass ich eigentlich gar nichts muss, außer einerseits mir und meinen wahren Prinzipien treu bleiben (und denen meines Partners, aber das ist ein ganz anderes weites Feld) und bei meinem Kind bleiben. Nur so wird es gestärkt und gefestigt und erhält ein Fundament, auf dem es gut und sicher wachsen kann.

Freitag, 29. Juni 2012

Balotelli

Gestern hat uns Balotelli aus der EM geschossen. Das erste Tor war noch ein recht leichter Schock. Das zweite kam dann schon einem Herzstillstand nahe. Als Balotelli dann losrannte, sein Trikot über den Kopf zog und versteinert wie eine Statue am Spielfeldrand stand, dachte ich mir ernsthaft "Was für ein Arschloch!" Bis der Kommentator begann, aus Balotellis Leben zu plaudern.





Natürlich bin ich enttäuscht. Wie gern hätte ich den Jungs zum einen den Bruch des Bannes gegen Italien gewünscht, zum anderen endlich mal wieder einen Titel. Letztendlich aber geht das Leben heute einfach seinen gewohnten Gang weiter. Für die einen im Bus nach Hause. Für die anderen mit der mentalen Vorbereitung aufs Finale.

Und während sich die Presse nun das Maul zerreißt über Balotelli, ihn huldigt und lobt oder seine Skandale und Patzer ausschlachtet, muss eines erwähnt werden - er kann für Seinesgleichen viel bewirken.
Seinesgleichen? Damit meine ich Kinder aus schwierigen Verhältnissen. Denn was diese Kinder vor allem brauchen sind Träume. Träume und Mut, ihnen zu folgen. Natürlich auch eine Portion Selbstvertrauen. Das ist es ja, was ihnen oft fehlt. Wer sind sie schon ohne Geld, ohne Bildung? Was es braucht ist ein Idol, einer, der so war wie sie, der es geschafft hat nach oben. Ganz oben.
Und nein, natürlich sind seine Ausrutscher nicht das, was ich als Vorbild für diese Kinder sehen möchte. Aber die gehören zu ihm. Und sind in diesem Moment nebensächlich. Denn was zählt ist, dass er ein großer Fußballer ist. Dass er sich nach oben gekickt hat. Mit Ehrgeiz und Willensstärke. Einer Perspektive gefolgt, einem Traum. Dinge, die uns oft so schwer fallen. Die wir uns dann für unsere Kinder wünschen.

Warum ich das hier schreibe? Weil es mich beschäftigt hat. Vor allem, weil auch ich diese Sichtweise erst in der 2. Spielhälfte nach und nach entdeckt habe.
Als der Kommentator eben aus dem Leben Balotellis plauderte. Aus seiner Kindheit. Und mir klar wurde, dass er nicht unbedingt ein arrogantes Arschloch ist, sondern ganz andere innere Motoren dieses Verhalten bei ihm steuern. Weil er die ersten so wesentlichen Lebensjahre nicht in den Armen seiner Eltern, sondern im Krankenhaus und in einer bereits fest bestehenden Familie verbracht hat. Weil für ihn Urvertrauen, Liebe und Zuneigung keine Alltäglichkeiten waren. Und somit schwer zu geben sind.

Auch für mich war das gestern eine neue Erfahrung und die hunderttausendste Einsicht, dass Bewertungen anhand von einer einzigen beobachteten Handlung einfach falsch sind. Falsch sein können.

‎"Die höchste Form menschlicher Intelligenz ist die Fähigkeit,
zu beobachten ohne zu bewerten."
Jiddu Krishnamurti


Versucht es mal. In der U-Bahn sitzen, auf der Straße, am Spielplatz. Beobachtet und versucht, nicht zu bewerten. Unmöglich? Nun - Einsicht ist der erste Weg...

Mittwoch, 16. Mai 2012

Muttertag, Vatertag

Sonntag war Muttertag. Morgen ist Vatertag. Die Blumenhändler hatten ihren Spaß. Die Sockenindustrie freut sich auf morgen. Und in Deutschland reiben sich die Gastronomen bereits die Hände.
Im ganzen Web war von Frauen zu lesen, die am Sonntag verwöhnt wurden. Und von denen, die enttäuscht waren. Hatten sie doch extra den Mann um ein Frühstück gebeten. Oder wenigstens ein wenig Grün am Küchentisch. Warum kommt es an diesen besonderen Tagen immer wieder zu Enttäuschungen?


Natürlich haben es die, die sich gar nichts erwarten, am einfachsten. Sie werden nicht enttäuscht. Und auch wenn ich zu denen gehöre, so verstehe ich, dass es wohl Menschen gibt, die gewisse Erwartungen hegen. Am Valentinstag. Am Frauentag. Und eben auch am Muttertag. Und wenn die Kinder noch zu klein sind, so muss sich eben der Papa kümmern. Oder?
Muss er das wirklich ?

Hat er nicht eine eigene Mutter, um die er sich an dem Tag kümmert? Oder eben auch nicht? Ist es wirklich seine Aufgabe, die Mutter seines Kindes zu verwöhnen?
Klar, es gibt die Männer, die das tun. Gern sogar. Und das ist eben der Knackpunkt. Wer es gern tut, den soll man nicht aufhalten. Dann gibt es eben die Männer, die das tun, wenn man sie darum bittet. Sie vergessen es einfach oder „denken gar nicht darüber nach“. Da ist es wichtig, die eigene Erwartung klar zu äußern. „Ich wünsche mir.“ lautet die einfache Zauberformel.
Und dann gibt es die Männer, die auch darauf nicht eingehen. Sind das dann gleich Idioten? Sicher nicht.

Vielleicht ist es wichtiger, an diesem Tag – oder generell - zu überlegen, wie der Mann tickt. Ist es nicht einfacher zu akzeptieren, dass diese aufgesetzten Freuden und Bescherungen nicht seine Art sind? Und freue ich mich wirklich über Blumen oder Schokolade, wenn ich sie mir quasi erzwungen habe? Was gefällt mir stattdessen an meinem Partner? Was bekomme ich sonst von ihm? Nicht im materiellen Sinne, sondern als Mensch? Ich hoffe, dass hier jeder Frau etwas einfällt, ansonsten… halleluja.

Und das gilt nun auch für den Vatertag. Frau kann jetzt natürlich ganz wütend und enttäuscht diesen Tag ebenso ignorieren. Vielleicht hatte sie aber schon eine schöne Idee? Eine kleine Überraschung? Macht es Sinn, Gleiches mit Gleichem zu vergelten? Oder bereitet sie ein extra großes Frühstück – damit er vielleicht ganz hinten rum und ihren fraulich querschießenden Gedanken folgend darauf kommt, dass er am Sonntag was verpasst hat? Da wage ich zu behaupten, dass die 2. Enttäuschung in nur einer Woche vor der Tür steht.

Als Eltern ist unsere Partnerbeziehung etwas sehr wichtiges. Etwas Fundamentales. Da ist es zum einen wichtig, die eigenen Erwartungen klar darzustellen. Dazu gehört, sie selbst erst einmal zu erkennen. Zum anderen ist es wesentlich, die/den andere/n zu sehen, wie sie/er wirklich ist. Und was ich letztendlich von ihr/ihm erwarten kann. Ansonsten werde ich wohl jedes Jahr aufs Neue enttäuscht.
Das Ganze ist keine so unwesentliche Grundlage für die Beziehung mit dem Kind. Denn wenn wir als Eltern es nicht schaffen, unsere Erwartungen und Wünsche deutlich zu machen, wie soll es uns vor dem Kind gelingen? Oder umgekehrt – wenn es mir vor dem eigenen Kind gelingt, aber nicht vor meinem/r Partner/in – was sagt mir das über meine Partnerschaft?

Es ist nicht nur ein Geben und Nehmen im Materiellen Sinne, sondern auch auf der Gefühlsebene. Ein ständiges Kennenlernen. Zumindest, wenn wir es uns erlauben. Und spannender bleibt es so auch.

Samstag, 12. Mai 2012

Ich zeig Dir was. Nicht.

Kürzlich habe ich wieder einen Artikel gelesen, in dem es darum ging, wie wir unserem Kind das Sprechen beibringen können. Ich habe mich bereits an dem Titel gestoßen, an dem Wörtchen "beibringen". Ja, unsere Kinder sind klein und neu auf dieser Welt. Aber heißt das wirklich, dass wir ihnen alles beibringen und zeigen müssen?

Wie zu erwarten war lautet meine Antwort: Nein. Und ich glaube, dass viele von Euch jetzt ebendso denken. Aber warum lassen wir uns dann doch immer wieder dazu hinreißen? Zeigen einem Kleinkind, wie man "richtig" mit etwas spielt, anstatt es experimentieren zu lassen? Warum führen wir Babies an den Händen durch die Wohnung, bevor sie selbständig laufen können? Warum wird so oft ein gemeinsames Bilderbuchschauen zum Quiz a la "Naaa, und was ist das?"

Einerseits glaube ich, dass es unsere heutige Gesellschaft ist. Wir rasen nur so durch die Zeit. Und es geht mehr um Leistung, Erfolg und Karriere als um das eigene kleine Glück. Momente versinken im tosenden Meer aus Stress und Hektik. Das große Ziel überwacht die kleinen Erfolge. So geht es auch schon unseren Kindern.

Kaum können sie sich auf den Bauch drehen, warten wir, dass sie sitzen können, krabbeln, laufen. Ist das erfolgreich gemeistert, streben wir dem Spracherwerb entgegen. Dabei übersehen wir oft, womit sich unsere Kinder gerade jetzt, in diesem Moment, beschäftigen. Was sie ausdauernd immer und immer wieder üben. Und welche Freude und Begeisterung das mit sich bringt.

Andererseits ist es auch die Tendenz des Vergleichens. Wir sind umgeben von Ratgebern, die uns sagen, was ein Kind wann und wie können sollte. Gleichzeitig kennen wir mittlerweile unzählige Kinder im gleichen Alter wie das unsere und meist können die dies und jenes schon viel viel früher.

Und auch wenn Lienhard Valentin vom Verein 'Mit Kindern wachsen' so wundervoll sagt "Jedes Kind ist anders. Jeden Tag.", so wage ich zu behaupten, dass jede, JEDE Mutter an den Punkt kommt, an dem sie vergleicht. Ihr Kinder mit hundert anderen. Die anders sind. Jeden Tag.

Ich weiß wovon ich rede. Herr Klein war und ist ein sehr gemütlicher Zeitgenosse. Sitzen, Krabbeln, Gehen - er hatte damit keinen Streß. Seine Sprache entwickelt sich auch eher langsam. Der Sohn einer Freundin, der nur 11 Tage jünger ist als Herr Klein, spricht mittlerweile ganze Sätze, ist mit 12 Monaten frei gegangen und war bisher immer, in allem eher früh dran. Es war unumgänglich, dass ich vergleiche. Und auch hin und wieder frustriert war. Aber es war nie so schlimm, dass ich der Meinung war, ich müsste Herrn Klein irgendetwas beibringen. Was auch?

Das Gehen ? War ihm einfach nicht wichtig. Seitdem er krabbeln konnte, kam er hin, wo er hin wollte. Er war zufrieden.

Das Sprechen? Nun ich rede mit ihm. Natürlich. Ich zeige und erkläre ihm die Welt um ihn herum. Aber ich kann ihm keine Worte in den Mund legen. Wir verstanden uns auch ohne Worte ganz gut und mittlerweile formt auch er die ersten Sätze.

Und dass er die Puzzleteile besser navigieren kann, wenn er sie am Knopf anfasst, wird er auch noch selbst bemerken. Dass nicht jeder Vogel eine Taube ist, nicht jede Grünpflanze ein Baum. All das kommt. Von allein. Denn Kinder sind interessiert und begeistert. Sie wollen lernen. Oder wie Maria Montessori sich ausdrückte: "Kinder können nicht nicht lernen."

Das Problem ist eher unsere eigene Ungeduld. Dabei sind Kinder DIE Chance im Leben, ein wenig ruhiger zu treten, zur eigenen Mitte zurückzufinden und dem rauschenden Fluß etwas zu entschwimmen. Hinaus in einen Seitenarm, der leise und ruhig dahinwellt. Denn in den Fluß treiben wir früh genug zurück. Spätestens, wenn unsere Kinder in die Schule gehen, und Leistungsdruck und Erwartungen ihren Alltag erfüllen. Gönnen wir ihnen bis dahin die Zeit, die sie brauchen. Und uns etwas Entspannung, die wir nötig haben.

 

Samstag, 5. Mai 2012

Herzkind

Heute ist der Tag des herzkranken Kindes.
Obwohl Herr Klein mittlerweile gesund und munter ist und die medizinischen Befunde das bestätigen, klebt dennoch ein Flicken auf seinem Herz.


Die jährlichen Untersuchungen, die Erinnerungen an die OP und die sicher irgendwann auftauchenden Fragen seinerseits bezüglich der Narbe, die andere Kinder nicht haben, machen ihn für mich lebenslang zum Herzkind - in seinem Falle zum gesunden Herzkind.

Es ist also heute dennoch ein Tag, der mich berührt. Und ich wünsche allen Familien mit Herzkindern ebenso viel Kraft und Liebe, wie wir sie hatten. Um das durchzustehen, von dem man anfangs glaubt, es würde einem den Boden unter den Füßen wegziehen.

Was mir geholfen hat damals, war das Lesen von Elternberichten. Um zu wissen, was auf uns zu kommt. Und so habe auch ich dann einen Bericht geschrieben, den ich heute mit Euch teilen will.

LiFE iS WONDERFUL

Danke.

Mittwoch, 2. Mai 2012

Gemeinsam wachsen

Sobald Frau schwanger ist, geht es gewöhnlich los. Wer sich nicht selbst Bücher über die aufregenden kommenden Monate kauft, bekommt sie sicher geschenkt. Und von da ist es dann nur mehr ein kleiner Schritt in den Wahnsinn des Ratgeberdschungels.


Man kann das von gar nicht ("Ich mach das ausm Bauch heraus.") bis exzessiv betreiben. Das Lesen von Ratgebern. Da ich Extreme in welche Richtung auch immer nicht mag, bin ich für den schnöden Mittelweg. Das ist wohl die meiste Arbeit, denn man muss erstmal herausfiltern, was brauchbar ist, was auf einen passt und womit man sich dann ausgiebiger beschäftigen will.

Aber ich will hier gar keine Anleitung für das Survival im Ratgeberdschungel schreiben. Vielmehr hat mich in letzter Zeit die Frage beschäftigt, was eigentlich so passiert, wenn man (oder Frau) so einen Ratgeber gelesen hat. Denn wenn man zum Beispiel Jesper Juul betrachtet, so ist der ja ein sehr bekannter Hund. Unterwegs, auf Spielplätzen oder in Parks, merkt man jedoch recht wenig davon, dass seine Bücher angeblich immer sehr gut verkauft sind. Nunja, gekauft ist nicht gleich gelesen. Aber das wäre im Falle Juuls wirklich schade, denn seine Bücher sind wirklich durch die Bank weg sehr empfehlenswert. Aber nein, das ist keine Verkaufsveranstaltung.

Denn wie ich nun nach langer Rätselei festgestellt habe, ist Ratgeber lesen nicht gleich handeln. Vor allem wenn es um Erziehungsfragen geht. Denn was uns oft gar nicht so bewusst ist, ist die Tatsache, dass wir vollgestopft sind mit Verhaltensmustern und Strukturen, die wir selbst erfahren haben. Wie oft haben wir uns gedacht, dass wir die Dinge anders machen wollen, als unsere Eltern? Egal wie, hauptsache anders. Nun, bei der Kindererziehung geht es da wirklich an die Substanz. Denn nach den ersten Monaten Schlafmangel und Stilldemenz, wenig Beziehung und einem stetig wechselnden Tagesablaufs, verfällt man schnell in Muster, von denen man nicht wusste, dass man sie so sehr inne hat. Da kann man noch so viel Juul gelesen haben, irgendwann stehen wir alle mal vor dem nicht hören wollendem Kinde und brüllen "Kannst Du nicht EINMAL..." oder "Musst Du IMMER...?"

Genau. Und nun brauchen wir uns nur einmal ruhig hinsetzen und fragen, woher wir diese Sprüche so gut kennen. Aus der eigenen Kindheit. Wir sehen plötzlich die wütenden Augen unserer Eltern, vielleicht sogar eine drohende erhobene Hand. Und denken "Oh scheiße!"

Kindererziehung ist eben nicht Ratgeber Lesen und Anwenden. Kindererziehung ist Elternerziehung. Und wer hier nicht bereit ist, sich dem zu stellen und die eigenen Muster aufzuknöpfen, um sie neu zu stricken, der kann sich abends genauso gut einen Krimi auf den Nachttisch legen (nichts gegen Krimis!).

Denn auch wer diese Ratgeber "anwendet", der wird merken, dass das nicht immer einfach so von der Hand geht. Wer das erste Mal vor seinem schreienden Kind hockt und sagt "Das ärgert Dich jetzt sehr. Du wolltest so gern noch mit dem Auto spielen" anstatt "Geh, Du hast doch vorher auch nicht damit gespielt.", dem mag das ungewöhnlich vorkommen. Aber das heißt nicht, dass wir es nicht versuchen sollten. Denn wer nun nach ein paar Malen draufgekommen ist, dass das Kind sich eigentlich recht schnell beruhigt, indem man es seine Gefühle leben lässt, anstatt sie stillzulegen, wer erfahren hat, dass ein ganz klares und deutliches "Nein. Das will ich nicht." viel besser 'funktioniert' als ein "Na bitte, das will ich eigentlich nicht so gern.", der wird dem fahrenden Zug so schnell nicht entspringen.

Aber es sind natürlich nicht immer diese Aha Erlebnisse. Es sind eben auch die eigenen Erfahrungen, die auftauchen, nachdem sie lange unbemerkt unter der Oberfläche geschlummert haben. Plötzlich setzt man sich mit der eigenen Kindheit auseinander. Das ist nicht immer Eis essen oder Märchenstunde mit Oma. Im Gegenteil. In unser aller Kindheit stecken oft Erlebnisse, die auch schmerzhaft gewesen sein können. Und ohne diesen zu begegnen, sich mit ihnen auseinander zu setzen und sie anzunehmen, können wir nicht von uns erwarten, dass wir ganz anders und am liebsten noch 'viel besser' handeln. Denn dann verbiegen wir uns nur.

Wieder einmal kann ich nur raten, recht bald, wenn möglich vor der Geburt, damit zu beginnen, mit dem Partner (so man denn nicht alleinerziehend ist) eine gemeinsame Basis zu finden. Welchen Weg wollen wir gehen? Was ist uns wichtig? Und wie? Denn während dieser schlafmangelnden stilldementen Monate, wenn dann die ersten Sackgassen auftauchen, reagieren oft nicht wir, sondern diese verinnerlichten Strukturen. Uns fehlen Motivation und Energie, um uns bewusst zu machen, dass wir doch 'anders' wollten, und 'besser'. Und umso mehr wir uns dann verfahren, umso schwieriger wird es, da herauszukommen.

Und dann ziehen und zupfen wir wieder nur an unseren Kindern, anstatt gemeinsam zu wachsen. 

 

Montag, 9. April 2012

Die Wahrheit. Nichts als die Wahrheit.

Auf der Pikler Spielraum Tagung vor kurzem war es vor allem ein Vortrag, der mich am meisten berührt hat. Nicht nur für meine zukünftige Tätigkeit, sondern vor allem auch privat hinsichtlich der medizinischen Vergangenheit (und Zukunft) von Herrn Klein.
Denn ja - es gibt ihn tatsächlich. Diesen Kinderarzt, der sich Zeit nimmt. Der mit einem Kind redet, bevor er es berührt. Und der hinterfragt.


Dieser Kinderarzt heißt Doktor Wolfgang Schaller und ist mittlerweile in Pension. Außerdem wäre Salzburg dann doch etwas zu weit weg, für Routineuntersuchungen als auch für Notfälle.
Was Doktor Schaller jedenfalls herausgefunden hat, während seiner Zeit als praktizierender Kinderarzt, ist vor allem eines: Kinder brauchen Wahrheiten. Viele Probleme wie Schlafstörungen oder anhaltende Schreiphasen sind in der Tiefe der Seele eines Kindes begründet, oft im Unterbewusstsein, und können durch Reden und Erzählen der Wahrheiten, die in der Familie schlummern, behoben werden. Können.
So hat er von Fällen berichtet, wo eben solche Schlafprobleme verschwanden, weil er nach einem Gespräch mit den Eltern herausfand, welche Probleme es während der Schwangerschaft, Geburt oder Nachgeburtszeit gegeben hat, die Eltern bat, dem Kind davon zu erzählen und so unbewusste, tief sitzende Ängste gelöst hat. 
Immer wieder hat er bei den Eltern nachgebohrt, und "Beichten" hervorgeholt, die geheilt haben. 
Wie wertvoll ist es für ein Kind, wenn es eben diese Wahrheiten erfährt, anstatt verängstigt oder verunsichert aufzuwachsen? 
Und letztendlich ist es ja nicht nur Heilung für das Kind, sondern auch für die Eltern. Deren Sorgen oder Probleme erhört werden, die diese Aussprechen können. Und die dann, mit einem entspannteren Kind eine wesentlich entspanntere Zeit leben und genießen können.

Genauso können es ja auch ganz einfache Wahrheiten sein, die den Eltern gar nicht als Problem aufgefallen sind. Zum Beispiel Babies, die sich einfach nicht aus den Armen der Eltern lösen lassen. Die schreien, sobald sie allein im Bett oder auf einer Decke liegen. Hier hat er oft herausgefunden, dass diese Kinder oder deren Mütter nach der Geburt medizinische Hilfe benötigt haben, die eine Zweisamkeit und das Bonding unterbrochen haben. Neugeborene, Babies mit Gelbsucht, von Operationen noch geschwächte Mütter oder sonstige Notfälle nach der Geburt. Selbst wenige Stunden unter der Wärmelampe sind für einen Säugling eine lange Trennung von der Mutter, nachdem es 9 Monate in deren Bauch gelebt hat. 

Eine weitere, sehr sehr interessante Methode, die er immer wieder empfohlen hat, ist, dass die Eltern den Kindern nicht nur die Wahrheiten erzählen, sondern mit ihnen an den "Ort des Geschehens" - das Krankenhaus - zurückkehren. Denn Gerüche und Geräusche setzen sich im Unterbewusstsein fest. Gerade bei Babies mit Schlafproblemen kann es also sein, dass diese Gerüche und Geräusche eben während des Schlafes auftauchen und zu Unruhe und Angstzuständen führen. Dem kann entgegengewirkt werden, wenn die Eltern mit dem Kind ins Krankenhaus, in den Kreißsaal oder auf die Station zurückkehren und ihm dort erzählen, was mit ihnen (oder ihnen selbst) geschehen ist und warum.

Gerade hier habe ich also mit dem Ohr einer Mutter eines mit angeborenen Herzfehler geborenen Kindes zugehört und gespannt gelauscht. Schon lange habe ich mich gefragt - Was hat diese Zeit vor der OP, die 6 Monate des unerträglichen Warten und Bangens, die OP selbst, die Zeit auf der Intensivstation und die Zeit danach mit ihm angestellt? Welche Fragen werden auftauchen, wenn er sprechen kann und versteht? Aber was schlummert jetzt schon tief in ihm? Wann soll/darf/muss ich damit beginnen, dies zu verarbeiten? Für ihn und für uns alle?

Hier bekam ich also meine Antwort von Dr. Schaller: Wahrheiten (vor allem große und schwerwiegende) sollte man einem Kind bis zum Schuleintritt jährlich erzählen. Das hat mich überrascht. Auch die Kinderkardiologin sprach vor der OP davon, dass es gut wäre, die OP so weit wie möglich hinauszuzögern, da von solchen Eingriffen später Probleme beim Schuleintritt auftauchen könnten. Vor allem je eher man operiert. Genau weiß ich den Hintegrund nicht, was das mit dem Schuleintritt genau zu tun hat, aber die Aussagen von zwei Ärzten diesbezüglich, haben mich darin bestärkt, es herauszufinden.

Doch bis dahin habe ich beschlossen, mit Leander die Stationen seines Herzfehlers aufzusuchen. Und so begab ich mich letzte Woche mit ihm ins Wiener AKH, ganz ohne Termin, ohne ersichtlichem Grund, dennoch etwas nervös.
Ich begann auf der Herzambulanz. Hier waren wir regelmässig vor der Geburt und müssen auch jetzt noch zu Nachkontrollen in gewissen Abständen erscheinen. EKG, Herzultraschall und Blutdruckmessung stressen hier nicht nur den kleinen Mann, sondern auch uns. Es war Freitagnachmittag und die Ambulanz geschlossen. So konnte ich ihm in Ruhe erklären, was sich hinter den Türen befand, was wir gewöhnlich dort machten, wenn wir herkamen, und warum. Er hörte mir zu, zeigt auf Türen und auf seine Brust, wo ich vorher mit dem Finger das Aufkleben der Elektroden nachgeahmt hatte. Er schaute sich kurz um, betrachtete die Schaukelpferde, hielt sich aber nicht lange auf. So, als ob er sagen wollte: wir gehen eh gleich wieder, ja?
Das taten wir. Hinüber zum Labor, wo ihm oft genug in den kleinen Finger gestochen und Blut herausgequetscht wurde. Er zeigte danach auf die Tür und auf seinen kleinen Finger. Er hatte also verstanden. Kurz überlegte ich, ob ich mit ihm den Gang zum OP nachgehen sollte. Aber es erschien mir fürs erste zu viel. Nicht nur für ihn, auch für mich. Also begaben wir uns auf die Intensivstation. Als wir vor der Schleuse standen, wurden meine Knie weicher. Ich hielt Leander fest im Arm und erklärte ihm, dass er dort sehr viel geschlafen hatte. Dass er dort allein war, und wir nicht da, als er aufwachte. Dass wir ihn nur besuchen durften, und wie schwer uns das fiel. Er nickte. Schaute sich um. Aber war ruhig. Von dort fuhren wir mit dem Lift auf Ebene 08. 
Ebene 08 - mein persönlicher Alptraum. Die Stationsoberschwester war an der Rezeption und um Fragen auszuweichen hielt ich mich mit Leander direkt am Lift auf. Ging nicht weiter in die Station hinein. Ich erzählte ihm, dass wir hier beide gewohnt haben vor und nach der OP. Doch während ich redete, sagte er "Nein. Nein. Nein!" Ich weiß nicht, ob er meine Anspannung so sehr spürte, oder ob in ihm selbst etwas aufkam. Von Damals. Von dem Wahnsinn dort. Und so folgte ich seinem Nein und wir beendeten den Besuch fürs erste. Es brauchte noch eine Weile, bis ich mich erholt hatte, meine Knie mich wieder sicher trugen. 
In 2 Wochen haben wir eine Untersuchung auf der Herzambulanz. Ich bin gespannt, wie diese verlaufen wird. Nicht nur aus medizinischer Sicht.
Aber es ist heilsam zurückzukehren und sich diesen eigenen Ängsten zu stellen. Es verknotet sich mein Magen jedes Mal, wenn wir mit der U6 am AKH vorbei fahren. Es wäre gut, das etwas zu beheben. Und wenn das bei mir funktioniert, warum dann nicht auch bei Leander? Und wie gut ist es, wenn er jetzt die Möglichkeit hat all das mit uns zu bewältigen, als in 20 Jahren mit einem Therapeuten?

Als angehende Familienbegleiterin hat es mich bestärkt darin, diesen Ansatz von Dr. Schaller weiter zu empfehlen. Nur muss ich dabei vorsichtig sein.
Denn hier können Dinge an die Oberfläche gelangen, denen wir auf Grund unserer psychologisch nicht allzu fundierten Ausbildung und den wenigen Vorkenntnisse in diesem Bereich nicht gewachsen sind. Dessen sollten wir uns bewusst sein. Aber es ist gut zu wissen, dass es für viele Probleme Lösungen gibt fernab von Schlaf- oder Schreiambulanzen. Und wieder einmal gilt es, sich als Familienbegleiterin ein Netzwerk an Fachpersonen aufzubauen, 
zu denen man verweisen kann, wenn man an seine Grenzen stößt.

Ich bin Dr. Schaller zu tiefst dankbar für diese Einblicke in seine Arbeit. Und ich hoffe, dass es doch mehr solcher achtsamer und empathischer Kinderärzte gibt.